Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Annabelle Benn


Ich liebe ja Leseproben und freue mich wahnsinnig, dass ich euch so schnell schon von noch einer lieben Autorin eine hier einstellen darf. 
Inhalt: Für die Liebe geht er bis ans Ende der Welt – und noch weiter.

Eigentlich hat Rick, Sohn eines irischen Multimillionärs, alles, wovon andere nur träumen: Ein fantastisches Aussehen, einen Haufen Geld und ein Haus voller Freunde.
Doch das genügt ihm nicht. Denn dass er als Versager und Taugenichts verschrien ist, dass ihn die Frauen nur wegen seines einflussreichen Vaters begehren, dass er sich nach einer erfüllenden Beschäftigung und einer harmonischen Beziehung sehnt – das ist die dunkle Seite der Medaille.


Deswegen will er mehr! Mehr als Geld und alles, was er hat. Er will einen Beruf und Liebe – und ausgerechnet Ciara.

Ciara hat nichts, was Rick hat. Sie ist mausgrau, bettelarm und teilt sich kein Haus, sondern eine schäbige Zwei-Zimmer-Wohnung mit drei Frauen, von denen sie wenig mehr als die Vornamen weiß. Dafür hat sie eine wunderbare Stelle als Konditorin und ein klares Ziel: Auswandern nach Australien.

Während Rick also sich selbst sucht, findet er Ciara und – verliert sie wieder.
Aber vielleicht nicht für immer? Und was sucht und findet seine Herzdame?
Leseprobe

1 Ciara

Leise vor sich hin summend legte Ciara vorsichtig den kalten Mürbteig in die Springform, deckte ihn mit Backpapier ab und beschwerte dieses mit getrockneten Bohnen, um zu vermeiden, dass er aufging. Dann schob sie die Form in den vorgeheizten Backofen. Bei exakt 180° Celsius musste der Teig nun elf Minuten backen.
Zufrieden richtete sie sich auf und blies sich ein paar Härchen, die für den Pferdeschwanz zu kurz waren, aus der Stirn. Ihre Hände waren voll Mehl und an ihren Fingern klebte Teig. Mit dem Handrücken drückte sie den Wasserhahn nach oben und wusch sich die Hände. Der kleine, schlecht beleuchtete Raum, in dem sie sich befand, war natürlich die Küche. Dennoch benutzten sie und ihre drei Mitbewohnerinnen ihn auch als Waschküche, Arbeitsraum sowie als Ess- und Wohnzimmer. Ihr Blick ging zu der alten, gelben Plastikuhr, die zwischen einem überquellenden Pinnbrett und dem glänzenden Bild einer sizilianischen Landschaft hing.
Siedend heiß durchfuhr es sie: Schon sieben Uhr! In zwanzig Minuten musste sie sich auf den Weg zur Arbeit machen! Allein die zweite Backzeit betrug aber schon zwölf Minuten, und in den zehn Minuten, die ihr von der ersten blieben, musste sie die Lemon Curd anrühren und das Baiser aufschlagen! Gut, auf das Letzte konnte man – aber nicht unbedingt sie – zur alleräußersten Not verzichten, denn was war ein Lemon Meringue Pie ohne die Meringue, den Zuckerschaum? Wie hatte sie nur so trödeln können? Jetzt war alles umsonst!
Dann jedoch fiel ihr beinahe hörbar ein Stein vom Herzen, denn sie erinnerte sich, dass die Uhr gestern Abend schon sehr lange die gleiche Zeit, nämlich drei Uhr, angezeigt hatte und dass die Stunden im Schneckentempo vergingen. Die Batterie kroch langsam, aber sicher auf ihr Ende zu, was nur bedeuten konnte, dass ihr Zeitplan nicht aus den Fugen geraten war.
Flink trocknete sie sich die Hände ab und drückte eine der gummierten Tasten ihres Handys, das nicht einmal ein Smartphone war, und sah, dass es in der Tat erst zwanzig nach sechs war. Doch auf die Erleichterung folgte der nächste Schrecken: Unbarmherzig und wie immer zu spät fiel ihr der knallrote Spiralblock ein, der an einem Geschenkband an der Pinnwand baumelte. Warum nur dachte sie nie rechtzeitig daran? Sie kannte die Antwort: Weil es ihr widerstrebte und weil es ungerecht war. Sie ging lange vor den anderen ins Bett, schaute nie fern und hatte weder ein Smartphone noch einen teuren Computer, der die ganze Zeit am Stromnetz hing und lud. Deswegen war es schlichtweg gemein, dass sie, als die zuletzt Zugezogene, ihre frühmorgendlichen Backzeiten auf die Minute genau dort eintragen musste. Nicht nur den Ofen, sondern auch das Licht, und wäre sie so rücksichtslos gewesen, beim Backen Musik hören zu wollen, hätte auch das Radio mit auf die Liste gehört.
Nur von den endlosen Kartons mit Tiefkühlpizzen, gefrorenem Shepherd’s Pie, Makkaroni ’n’ Cheese und anderen Fertiggerichten, die im Backofen oder in der Steinzeit-Mikrowelle aufheizten, war nie die Rede. Das war wirklich nicht fair, noch dazu, weil Ciara Selma, Trini und Leona immer etwas von ihren Kreationen anbot. Es war ja nicht ihre Schuld, dass Trini mit ihrer fast 1,80 m Körperlänge und einer Kindergröße bestimmt essgestört war, dass Leona wohl aus Prinzip nichts von ihr annahm und dass Selma – ach, warum auch immer an allem etwas auszusetzen hatte. Nicht ärgern, redete sie sich gut zu und überlegte, wann sie wohl das Licht eingeschaltet hatte. Reichten 30 Minuten oder sollte sie auf Nummer Sicher gehen und 35 eintragen? Sie entschied sich für Letzteres, denn auch wenn sie jeden Cent dreimal umdrehen musste, so wollte sie ihre Mitbewohnerinnen doch nicht übervorteilen. Und was waren schon fünf Minuten im Leben einer Energiesparlampe!
Folglich trug sie mit ihrer fein säuberlichen, aber weit geschwungenen Handschrift „03.10.2017, 06:04 bis … Licht“ ein, denn um Punkt sechs hatte ihr Wecker geklingelt und zwei Minuten hatte sie zum Zähneputzen und zwei für den Rest der Dinge im Bad gebraucht, und „06:10 bis … – Ofen“.
Ciara wusste, dass das Backen vor der Arbeit ein teures Vergnügen war, was nicht nur am Strom, sondern auch daran lag, dass sie nur die besten Zutaten verwendete. Aber wenn sie minderwertigere Zutaten nehmen würde, könnte sie das Backen ja auch gleich bleiben lassen. Dann hätte sie zwar mehr Geld, aber nichts mehr vom Leben. Backen war in den letzten Wochen und Monaten zu ihrem Lebensinhalt geworden, doch so oft sich diese Erkenntnis auch in ihr Bewusstsein drängte, so entschlossen schob sie sie jedes Mal wieder weg. Sie war der Freiheit und des Lebens wegen nach Dublin gekommen und nicht für einen Spiralblock und ein halbes Zimmer. Aber gut, wer hätte gedacht, dass … Nein. Es war besser, hier als Zuhause zu sein, ermahnte sie sich und drängte aufsteigende Tränen zurück. Sie war, wie sie selbst fand, ein Meister im Verdrängen geworden. Aber das Backen half auch gegen Heimweh! Sie buk, wenn es ihr gut ging, und sie buk, wenn es ihr schlecht ging. Sie buk, weil sie einfach alles daran genoss: das Auswählen der Zutaten, das Zubereiten des Teiges und der Füllung, das Kneten und Formen, den Duft beim Backen, das Verzieren und Anrichten auf einem Teller und natürlich den Genuss beim Essen.
Besonders die allmählich immer kälter und dunkler werdende Jahreszeit wäre ohne Backen unerträglich. Hier, im Osten der Insel, schien die Sonne kürzer, dessen war sie sich sicher, auch wenn viele Leute etwas anderes behaupteten. In ihrem Heimatdorf in der Nähe von Cork, im Süden Irlands, wo sie aufgewachsen und von wo sie im Juli weggezogen war, war der Himmel auch im Winter klar. Doch in Dublin hing er trüb bis auf den Asphalt, und es dauerte fast immer bis Mittag, bis sich der Nebel auflöste. All das trug dazu bei, dass Ciara sich immer unwohler fühlte, je weiter sich der Sommer entfernte. Zudem war die Kälte zu Hause anders. Egal, wie lange man dort spazieren ging, nie kroch sie einem bis in die Knochen.
Als sie nun den Stift auf das vollgestellte Fensterbrett zurücklegte und auf den schmalen Streifen zwischen Gehweg und Straße hinunter schaute, fiel ihr Blick auf die fleckige Matratze, das Dreirad mit zwei Rädern und eine Elektroherdplatte, die heute Nacht dazugekommen sein musste. Da das andere Gerümpel schon bei ihrem Einzug da gewesen war, war zu erwarten, dass sie sich auch an den Anblick der Platte gewöhnen würde. Zu Hause, auf dem Land, war so etwas unvorstellbar. Dort räumte jeder immer auf. Aber dort kannte auch jeder jeden und hier kannte keiner keinen. Ciara vermutete, dass das der große Unterschied war. Deswegen half auch niemand niemandem, wenn irgendwer irgendwas brauchte.
Ciara zerließ die Butter für die fruchtig-frische Lemon Curd in einem Topf.
Bei solchen Gedanken sehnte sie sich zurück. Nicht nur nach der geräumigen, voll ausgestatteten Küche im Parterre des alten Bauernhofs, sondern auch nach ihrer Familie. Sogar nach ihrem Vater, der sich gerade an den schweren Holztisch setzte und ihrer Mutter dabei zusah, wie sie die Frühstückswürstchen, Pilze, Tomaten und Eier in der schwarzen Bratpfanne wendete. Nach und nach kämen ihre drei noch unverheirateten Brüder, die alle noch zu Hause wohnten, in die Küche gepoltert und setzten sich mit einem „Guten Morgen!“ an den Tisch. Sie würden über die anstehende Arbeit reden, bis das Essen serviert wurde, und dann würden sie nichts mehr sagen, bis sie den letzten Rest Sauce mit dem selbst gebackenen Toastbrot aufgewischt hätten. Und dann, wirklich erst dann, wenn sie aufgestanden und zur Arbeit aufs Feld oder in den Stall gegangen waren, würde ihre Mutter sich zu ihrem Frühstück an den Tisch setzen. Das war so gewesen, seitdem Ciara denken konnte, und würde immer so bleiben.
Mit einem bitteren Grummeln schüttelte Ciara den Kopf und verrührte den Zitronensaft, das Citroback (unbehandelte Zitronen waren einfach wirklich viel zu teuer) und den Zucker mit der Butter. Sie schlug die Eier auf, verquirlte sie, passierte sie durch ein feines Sieb und rührte nun die goldgelbe Masse so lange, bis sie andickte, ohne anzubrennen, denn dann wäre die Creme ruiniert. Sie trennte die restlichen Eier, um das Eiweiß mit Puderzucker zu einem Baiser zu verarbeiten.
Leise legte sie die Küchengeräte, die sie nicht mehr benötigte, in die Spüle. Dabei schüttelte sie erneut den Kopf und zuckte die Schultern. Noch war das Leben hart, aber eines Tages würde es federleicht werden, daran glaubte sie fest. Jeden Morgen und Abend betete sie zu Gott für eine Wendung zum Besseren, und dass sie aus Cork weggezogen und in derart ärmlichen Verhältnissen gelandet war, konnte nur eine Zwischenstation sein. Eine auf ihrem Weg nach Australien, dem Sehnsuchtsort, Ziel aller Hoffnungen, Wünsche und Träume. Sobald sie genügend Geld gespart hätte, würde sie ein Ticket kaufen. Nur hin, nicht zurück. Dann würde sie auf dem roten Kontinent, im Land der ewigen Sonne (denn das war es in ihrer Vorstellung) glücklich werden und es für immer bleiben. Weit weg von ihrem Vater und sämtlichen anderen Männern, die allesamt nicht wussten, was Liebe war. Nicht, dass sie es besonders gut gewusst hätte, denn viele Gelegenheiten zum Kennenlernen hatte sie mit ihren zwanzig Jahren noch nicht gehabt. Nur wusste sie, dass das, was Niall und Brian mit ihr getan hatte, nicht der gängigen Vorstellung von Liebe entsprach.
Ja, Australien … Perth oder die Golden Coastim Westen … Wenn es so kalt und neblig war wie hier in den letzten Tagen, dann wurde dieser Traum lebensgroß. Manchmal, so wie jetzt, sogar überlebensgroß. Dann meinte sie, die Sonnenstrahlen förmlich auf der Haut zu spüren und den Duft des Eukalyptus zu riechen.
Die Küchenuhr schepperte leise in der Schublade, um die anderen nicht zu wecken. Behutsam öffnete sie die Ofentür einen Spalt, um dem Teig nicht durch einen plötzlichen Temperatursturz zu schaden, nahm ihn dann heraus, um zuerst die Zitronencreme einzufüllen und darauf Löffel für Löffel das himmlische Weiß zu schichten. Zum Abschluss tupfte sie mit dem Löffel in den Eizuckerschaum, um kleine Wölkchen zu formen, und schob ihr Werk anschließend zurück in den Ofen.
Dann eilte sie die wenigen Schritte in ihr Zimmer, wo Selma noch tief und fest in dem Bett an der Innenwand schlief. Zwischen den zwei je neunzig Zentimeter breiten Betten war gerade genügend Platz für zwei wackelige Nachtkästchen. Auf ihrem lag ein Liebesroman aus der Bücherei und ihr Meerjungfrauenwecker. Am Fußende des Bettes befand sich ein kleiner Schrank, der noch aus den Gründungsjahren von Ikea stammen musste und zu klein für die Sommer- und Winterkleidung der beiden Zimmergenossinnen war. Deswegen ging Ciara beinahe in den Spagat, um über Selmas immer offen am Boden liegenden Koffer zu steigen. Bemerkenswerterweise herrschte in dem Koffer eine peinliche Ordnung, was Ciara beruhigte. Selma war schon da gewesen, als Ciara vor gut drei Monaten, also im Juli, einzog. Damals hatte Ciara sich über die Freundlichkeit der jungen Frau aus – dem Dialekt nach – Sligo gefreut. Sie hatte ihr nämlich scheinbar selbstlos das Bett am Fenster überlassen. Und ja! Im Sommer war der Luftzug angenehm erfrischend. Das Dumme war nur, dass irische Sommer kurz, die Winter dafür lang und die einst so herrlich erfrischenden Luftzüge dann eisig kalt sind. Und dabei war gerade mal Anfang Oktober! Oder schon! Schon mehr als zwei Monate teilte sie mit Selma, von der sie weder den Nachnamen wusste, noch, womit sie ihren kümmerlichen Lebensunterhalt verdiente, das Zimmer.
Ciara nahm das vorletzte frische T-Shirt, ihre Kapuzenjacke, ihre schwarze Hose und frische Wäsche aus dem Schrank. Es war ein Segen, dass das Sweetest Sins Arbeitskleidung stellte, denn so sparte sie sich den Kampf um eine Lücke im Waschplan der zwei ständig kaputten Waschmaschinen im Keller des Hauses, und außerdem musste sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob sie für die exklusive Konditorei mit Café am schicken Bachelor’s Walk passend gekleidet war.
Im Bad fröstelte sie – und dabei waren es noch sechs Wochen bis Mitte November! Denn dann erst, so hatten sie einstimmig beschlossen, würden sie die Heizung anstellen.
Zweifelsohne sah das Leben, das sie sich bei ihrem überhasteten Abschied von Cork ausgemalt hatte, anders aus. Doch ein Zurück gab es nicht, und Ciara war eine Kämpferin.
Nach der Dusche betrachtete sie sich im Spiegel und war froh, dass ihr Haar von Natur aus fein und blond war, denn so ersparte sie sich Zeit und Geld für die Pflege. Auch ihre Haut war rein und glatt und glänzte wie Seide, sodass Puder und Wimperntusche alles war, was sie verwendete. Manchmal träumte sie davon, sich mit teuren Produkten zu schminken, die Nägel zu lackieren oder noch besser: lackieren zu lassen, so wie es die Frauen taten, die in ihrer eleganten Bürokleidung oder mit ihren Designerkinderwagen ins Sweetest Sins kamen. Später, eines Tages, vielleicht, wenn sie selbst Kinder hatte … Aber vorerst gab es weitaus Wichtigeres.
Der Küchenwecker stand laut tickend zwischen diversen Zahnpastatuben, der Zeiger zeigte noch eine letzte Minute Backzeit an, und als Ciara die Badezimmertür öffnete, verströmte ihr Backwerk einen unwiderstehlichen Duft. Schnell drehte sie den Wecker aus, um die anderen nicht zu wecken, schloss die Augen und sog den wohligen Geruch, bei dem man meinte, hineinbeißen zu können, tief ein. Dann ging sie zum Ofen, lugte durch das Fenster, stellte den Herd ab, öffnete die Tür, trug die Zeit in den Block ein, schaltete den Wasserkessel an, häufte einen Teelöffel Instantkaffee in ihre Tasse und holte dann erst den Kuchen heraus.

„Perfekt“, entfuhr es ihr leise, als sie ihn ansah und sanft mit dem Finger darauf drückte. Ihre Hände zitterten leicht, als sie ein Stück abschnitt und auf einen Teller legte. Er war so frisch, dass er noch dampfte. Ihr lief bereits das Wasser im Mund zusammen, als sie das schwarze Pulver aufgoss und sich zufrieden an den kleinen Tisch setzte. Es war jetzt vollkommen ruhig in der Wohnung, nur Selmas Schnarchen und das letzte Vorwärtsschleppen der Zeiger der Küchenuhr waren gelegentlich zu hören. Sie sprach ein kurzes, stummes Gebet und nahm mit vor Genuss geschlossenen Augen den ersten Bissen des frischen Kuchens.
***
Das Sweetest Sins befand sich, wie gesagt, am modernen Bachelor’s Walk, der am Nordufer des Liffeys entlangführte. Dieses Viertel schien Lichtjahre von der WG in Crumlin entfernt zu sein, und beinahe ebenso lange schien an manchen Tagen die Fahrt dorthin zu dauern. Das war zum Beispiel bei schrecklich schlechtem Wetter oder bei großer Hitze der Fall, wenn die Waggons der Luas, der Dubliner Straßenbahn, heillos überfüllt waren und man sich wie eine Ölsardine zwischen entsprechend riechenden Menschen drängen musste.
Zum Glück war das heute nicht der Fall und Ciara ergatterte für die zwanzig minütige Fahrt nach Jervis einen Sitzplatz. Liebend gern hätte sie näher an der Arbeitsstelle gewohnt und sich so die zweihundert Euro für ihre Monatskarte gespart, aber die Mieten im Zentrum waren so astronomisch, dass die Fahrtkosten im Vergleich dazu ein Klacks waren.
Bis vor wenige Wochen hatte sie bei einem deutschen Discounter in Crumlin gearbeitet, nur einen kurzen Fußweg von der WG entfernt. An einem freien Tag war sie den weiten Weg zu Fuß ins Zentrum gegangen, um sich das Dublin anzuschauen, von dem alle schwärmten und von dem sie noch immer träumte. Dabei war sie zunächst zwar nicht in, aber doch zumindest bis vordas Sweetest Sins gekommen und hatte im Fenster die Stellenanzeige entdeckt. Daraufhin war sie sofort eingetreten und hatte sich beworben. Mit Erfolg, wie man sah. Damals wie heute kam es ihr wie ein Traum vor, dort zu arbeiten. Das Café war zwei Jahre alt, die Möbel waren aus hellem Holz, auf den Tischen standen Vasen mit frischen Blumen, an den Wänden hingen gerahmte, matte Fotos, die Speise- und Getränkekarten waren kleine Schiefertafeln und überhaupt war alles mit Liebe und in Handarbeit gefertigt. Allein diese Auszeit von der grau-schwarzen Hoffnungslosigkeit war ihr die Fahrtkosten zehnmal wert. Das Café war so schön, dass es ihr jedes Mal wie eine Belohnung vorkam, hier und nicht in der WG zu sein. 
Die Zwillingsschwestern Natalie und Melanie, denen der Laden gehörte, hatten zunächst gekichert und schließlich breit grinsend genickt und ihr die Stelle sofort angeboten. Das Kichern hatte ihrem Dialekt gegolten, das wusste Ciara. Leider schien er zu ihr zu gehören wie ein Muttermal, denn egal, was sie unternahm, er ging einfach nicht weg. Ciara errötete leicht, als sie daran dachte, wie sie mitten in dem gut besuchten Café an jenem Sonntag „Yippie“ gerufen und in die Luft gesprungen war. Am nächsten Tag war sie nicht mehr in den Discounter, sondern hierher gegangen. 
Das Sweetest Sins hatte eine große Stammkundschaft. Die erfolgreichen Geschäftsleute, wohlhabenden Mütter und reichen Studenten kamen und kauften dort ihre frischen Mandel-Croissants, Apfeltaschen, Genovesi, Kuchen und Torten nach ausländischen Rezepten, genehmigten sich dazu Cappuccino mit Sahne, einen starken, pechschwarzen Espresso oder erstanden – und das waren besonders die Mütter, die einfach immer alles auf die Reihe kriegen oder reich geheiratet hatten – dort ihr gesundes Brot und einen frisch gepressten Obst- und Gemüsesaft. Am Abend war nie etwas übrig, dafür aber war die Kasse immer randvoll. Das Geschäft lief einfach blendend, die Zwillinge und ihre Kollegen waren schrecklich nett und Ciara liebte den Ort und die Arbeit so sehr, dass sie am liebsten dort eingezogen wäre und nie mehr einen Fuß in die Mehrzweckküche und ihr halbes Zimmer gesetzt hätte.
Ciara lehnte den Kopf an die beschlagene Fensterscheibe, hinter der die Stadt vorbeizog. Mit dem Zeigefinger malte sie ein Herz und schrieb C.T., für Ciara O’Toole, hinein. Was ihre Mutter wohl gerade machte? Wider besseren Wissens holte sie ihr Handy hervor und wählte die Nummer. Die Männer waren um diese Zeit längst weg, ihre Mutter war allein. Es läutete. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Dann sagte jemand „Hello?“ und legte auf, als Ciara mit erstickter Stimme „Mom!“ hervorbrachte. Diesmal versuchte Ciara nicht, die Tränen aufzuhalten. Sie waren erst in Rialto und hatten folglich noch Zeit. Bis sie Jervis erreichten, waren die Tränen getrocknet, aber stattdessen loderte jetzt Wut in ihrem Bauch.
Zornig sprang sie aus der Tram und ging schnellen Schrittes zur Bäckerei. Sie hielt den Blick auf den Boden geheftet und steckte die Fäuste in die Jackentasche. Das, was zu Hause geschah, war gemein! Sie zog die Schultern bis zu den Ohren hoch, als könnte sie sich so vor der Außenwelt abschirmen und sich schützen. Bei allem, was mit der großen Stadt, der WG und ihrer finanziellen Notlage nicht stimmte: Wenigstens musste sie nicht mehr dumm rumstehen und warten, bis ihr Vater mit dem Essen fertig war! Und wenn sie glaubte, dass ihre Mutter jemals wieder mit ihr sprechen würde, dann war sie einfach dumm!
Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie die Tür schwungvoll aufdrückte und in den warmen, nach frischem Gebäck duftenden Laden stolperte.
„Guten Morgen, meine Liebe!“, grüßte Melanie fröhlich, sah von einem Haufen Kekse auf, die sie gerade auf einem Tablett anordnete, und lächelte sie freundlich an. „Du bist heute aber früh dran!“ Ihre langen, braunen Haare schimmerten leicht rötlich und in ihren braunen Augen lag ein warmer Glanz.
„Hallo Melanie, guten Morgen, ah, ja, ich habe eine frühere Luas erwischt“, antwortete Ciara und zog sich schnell die Jacke aus.
Da tauchte Natalie mit einem Blech voll verführerisch duftenden Mandelcroissants aus der Backstube auf.
„Warte, ich helfe dir!“, rief CIara, lief in die kleine Garderobe, die hinter der Küche und Backstube lag, und hängte ihre Sachen in ihren Spind. Schnell wusch sie sich die Hände und begann, die Croissants hübsch in der Glasvitrine aufzutürmen.
Eine Weile beobachten die Zwillinge sie schweigend, und Ciara wunderte sich bereits, ob etwas mit ihr nicht stimmte, als Melanie sich räusperte.
„Also, Ciara … Der Pecannuss-Zopf von gestern …“, setzte sie an und schaute Ciara neugierig an. Der blieb fast das Herz stehen, denn am Vortag hatten die Schwestern sie gebeten, etwas Schnelles für die ersten Kunden des Tages zu backen. Sie hatte einen Nusszopf gewählt, den sie aus dem Effeff beherrschte und den man fast nicht versemmeln konnte. War er bitter gewesen? Oder hart? Oder waren ihre drei Prisen Salz auf die Menge zu viel gewesen? Ihr schwante Übles. Zurück in den Discounter?
Doch da kicherte Natalie und stieß Melanie mit dem Ellbogen in die Seite. „Der war soooo gut. Ein Gedicht! Einfach himmlisch!“
„Ja, ein Gedicht, das war er!“, stimmte Melanie ins Schwärmen ein.
„Der Zopf ging weg wie die sprichwörtlich warmen Semmeln!”
„Oh”, seufzte Ciara erleichtert, ließ ihre angespannten Arme locker fallen und spürte, dass ihre Wangen rot anliefen. „Wirklich? Da bin ich aber froh!“
„Ja, ganz wirklich! Du bist wirklich eine hervorragende Bäckerin!“, lobten beide sie. „Und genau deswegen wollten wir dich fragen …“, alle drei hielten die Luft an, bevor Melanie weitersprach, „ob du nicht Lust hättest, den Laden morgens zu eröffnen.“
Ciara riss die Augen auf, schlug sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei.
Natalie lächelte und redete weiter: „Das würde bedeuten, dass du allein für das erste Gebäck zuständig bist.“
„I… ich?“, fiepste Ciara atemlos.
„Ja, du!”, lachten beide. „Was ist, hast du Lust? Natürlich würdest du entsprechend mehr verdienen und könntest am Abend früher nach Hause gehen.“
„Echt? Kein Spaß? Ist das euer Ernst? Ich allein?”, stammelte Ciara und schaute von einer zur anderen. „Das traut ihr mir zu?“
„Ja, natürlich! Es ist unser absoluter Ernst. Wir wären ehrlich gesagt froh, mal wieder später anfangen zu können. Es ist schon lange her, dass wir jemanden hatten, auf den wir uns verlassen können.“
Ciaras Körper wurde heiß und ihre Beine zitterten. Das war einfach unglaublich! Sie war soeben befördert worden und würde nie mehr ihre Stromverbrauchszeiten in den blöden Spiralblock schreiben müssen!


„Rick! Warum jetzt?”, seufzte James Mahoney abgrundtief und schlug verzweifelt die Hände vor sein ebenmäßiges Gesicht, das Frauenherzen weltweit zum Schmelzen brachte. Noch immer hielt er es hinter den Händen verborgen, während er den Kopf lange schüttelte.
„Warum nicht jetzt?“, gab Rick angriffslustig zurück.
Vater und Sohn saßen sich in den schweren Clubsesseln in James‘ Herrenzimmer gegenüber und sahen sich an, als sähen sie einander zum ersten Mal.
„Weil ich gerade letzte Woche mein Projekt für die Obdachlosen Dublins mit allen beteiligten Künstlern vorgestellt habe! Sag mal, hast du das denn nicht mitbekommen? Es war in allen Zeitungen und … Ach, egal.“
Natürlich hatte Rick nichts davon mitbekommen, schließlich setzte er seit Jahren alles dran, nichts davon mitzubekommen, was sein ach-so-erfolgreicher Vater so alles tat. Er lebte weitaus zufriedener, wenn er nicht tagtäglich mit den neuesten Hits, Errungenschaften, Events und sozialen Projekten, bei denen sein Vater die Finger mit im Spiel hatte, konfrontiert wurde. Doch so weit, um ihm das zu gestehen, war Rick nicht. Nun aber brauchte er ein paar Momente, bis er sich wieder fing. „Du engagierst dich für Obdachlose? Seit wann das denn?“, fragte er zweifelnd.
„Rick!“ Mit großen Augen starrte James ihn an. „Schon seit einer Ewigkeit! Das weißt du doch!“
„Ja … stimmt“, murmelte Rick, noch bevor dieses und jenes Detail, das er erfolgreich verdrängt hatte, zurück in sein Bewusstsein kletterte. So erfolgreich sein Vater im Leben und Geschäftemachen war, so erfolgreich war Rick im Verdrängen. Manchmal fiel der Apfel eben sehr weit vom Stamm, dachte er oft, oder der Baum stand an einem reißenden Fluss und das Fallobst wurde davon geschwemmt und zu Treibobst. Aber heute war er nicht hier, um Trübsal zu blasen, sondern um zu kämpfen.
„Aber was heißt das jetzt für mich und mein Projekt? Ich meine, du hast es dir doch noch gar nicht angeschaut!“ Verloren starrte er auf das Tablet, auf dem er mehr als dreißig Stunden selbst gesammeltes Dokumentationsmaterial und Interviews gespeichert hatte.
„Das heißt, Rick, leider, dass du zu spät dran bist und dass ich dir dabei nicht medienwirksam helfen kann. Wenn du jetzt nachziehst, sieht es aus, als würdest du auf den fahrenden Zug aufspringen und als würde ich dir einen Gefallen tun. Das schadet uns beiden weit mehr, als uns es bringt.“
Rick schnaubte abfällig und ließ nun doch den Kopf hängen. Sein Vater brauchte nicht weiterzusprechen. Endlich war Ruhe eingekehrt, aber als Rick nach dem Master noch immer nicht zu arbeiten begonnen, sondern weitere Kurse belegt hatte, hatte die Presse bösartig zu spekulieren begonnen und ihn als „Sohn“, „Taugenichts“, „Erbe“ etc. durch den Dreck gezogen. Und jetzt war er zu spät dran! Was hatte er eigentlich erwartet? Es ging immer irgendetwas schief in seinem Leben. Immer. Ohne Ausnahme. Alles, was er hatte, war das Geld seines Vaters – und ein Haus voller Freunde. Das Haus, das sein Vater ihm überlassen hatte, als er gesehen hatte, wie gut ihm die fünf taten und wie sehr sein Herz an der Clique hing.
Auch sein Vater atmete laut aus, schüttelte noch einmal den Kopf, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und schaute nachdenklich an die Stuckdecke. Dann ließ er die Hände auf die Tischplatte sinken und schaute seinen Sohn ernst und nachdenklich an. „Rick, ich finde es wirklich super, und es freut mich total, dass du dich für ernste Themen interessierst und dich engagieren willst. Aber dich jetzt in den Medien zu unterstützen, das wäre absolut lächerlich und hochgradig kontraproduktiv. Ich unterstütze dich gern im Stillen. Und bei jedem neuen Projekt, für das du dich stark machst. Sag mir nur bitte, bitte!, nächstes Mal rechtzeitig Bescheid. Und jetzt überlegen wir, was wir sonst tun können …“
Das Gespräch ging Rick im Kopf herum, als er mit seinem BMW Coupé von dem schönen Küstenort Killarney ins Zentrum der Stadt zurückfuhr. Sie hatten nichts gefunden, was er jetzt tun könnte, natürlich nicht, und Rick erkannte selbst, dass es daran lag, weil er sich wieder verschlossen hatte. Er war einfach ein Versager, aus dem nie etwas wurde. Er suchte und suchte und fand nur verschlossene Türen. Er brauchte kein Mitleid, er brauchte eine Aufgabe. Eine, die sinnvoll war und bei der er anderen half. Wie dieses Filmprojekt! Aber das wollte nun wieder niemand!
„Es reicht!“, schrie er und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Still dachte er, dass er lange genug der Sohn gewesen war und sich das Leben von Papa hatte finanzieren lassen. Seine ältere Schwester Elaine arbeitete in New York bei einer Frauenzeitschrift mit einem politisch-sozialen Schwerpunkt – neben Mode, Kosmetik und den neuesten Wohn– und Lebenstipps. Sein Mutter vertrieb sich, soweit er das beurteilen konnte, die meiste Zeit in Spas, beim Golfen, Tennis und Yoga, während der Vater die meiste Zeit geschäftlich unterwegs war. Nichtsdestotrotz waren seine Eltern ein glückliches Paar. Sie liebten sich wirklich und ihre Ehe war nicht nur in der Presse, sondern in echt harmonisch, das musste er zugeben, auch wenn er dieses Idyll wann und wo immer er konnte mied. Als schwarzes Schaf passte er einfach nicht dazu.
Sein Vater hatte sich erkundigt, was Ricks Interesse an der Wohnungskrise und den vielen Obdachlosen ausgelöst hatte. So hatte er ihm von Brandon erzählt.
Letzten Winter, als die Wohnungsnot einen neuen, erschütternden Höhepunkt erreicht hatte, war er eines Nachmittags aus einem trendigen Coffee Shop in der Innenstadt gekommen und beinahe über einen Mann gestolpert, der in etwa so alt wie er selbst war. Dabei hatte er die angebissene Zimtrolle, die satte drei Euro fünfzig gekostet hatte – das wusste er noch genau -, in den Schoß des Obdachlosen fallen gelassen. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander hängen. Der Mann mit den himmelblauen Augen sah ihn mit einer Mischung aus Scham, Hunger und Ergebenheit an. Sein Gesicht und seine Kleidung waren beinahe sauber, aber sein Bart war seit Tagen nicht rasiert und sein Haar ebenso lange nicht gewaschen worden. Er saß auf einem Lager aus alten Decken, Kissen und seinem Schlafsack und hatte seinen kleinen Bereich mit seiner abgewetzten Tasche, Pappkartons, Obstkisten und einer Grabkerze abgegrenzt. Neben ihm lag ein abgegriffener Roman, an dessen Titel Rick sich nicht erinnern konnte.
„Ent… schuldigung“, stammelte Rick und ging in die Hocke, um nicht über dem Mann zu thronen. „Ich – ähm – mögen Sie Zimtrollen? Hätten Sie gern eine ganze?“ Er geriet ins Schwitzen, so sehr schämte er sich plötzlich für seine achtlose Geldverschwendung und all den Luxus, den er so oft gar nicht schätzte.
„Sie meinen – eine Zimtrolle von da“, der Mann zeigte auf das Café, „von da drin?“
„Ja, genau“, nickte Rick. „Mit Kaffee. Oder Saft. Oder etwas anderes. Was Sie halt gerne mögen.“
„Wirklich?“ Der Mann begann zu strahlen. „Also, wenn Sie das wirklich ernst meinen, dann hätte ich am liebsten eine Zimtrolle und einen Cappuccino mit Milchschaum und Kakao oben drauf.“ Seine Stimme klang verträumt und seine Augen leuchteten wie die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum.
„Gern. Oder wissen Sie was – kommen Sie doch einfach mit rein, dann können Sie sich aussuchen, was Sie wollen“, schlug Rick vor und erhob sich. Noch während er sprach, spürte er, dass er etwas Falsches gesagt hatte und ahnte schon, was es war, bevor der Fremde es mit plötzlich niedergeschlagenem Gesichtsausdruck flüsterte: „Nein. Nein. Lassen Sie nur. Die wollen so einen wie mich da drin nicht haben.“
„Ach, wieso denn nicht!“, versuchte Rick, ihn umzustimmen und vor allem sich selbst zu beruhigen.
„Nein. Bitte nicht“, wehrte der Mann entschieden ab und schaute auf den Asphalt, der so nah vor seinen Augen war.
„Okay“, antwortete Rick leise und ebenso bedrückt. „Ich bin gleich wieder da.“ Und das war er. Mit den letzten drei Zimtrollen, die der Laden an dem Tag hatte, und einem großen Cappuccino mit cremigem Milchschaum und viel Kakao.
Dem Mann stiegen die Tränen in die Augen, als er die Geschenke an sich nahm und dabei immer wieder „Danke, danke, danke“ flüsterte, während er jeden einzelnen Bissen und Schluck genoss.
Rick brannte darauf, zu erfahren, warum und wie er auf der Straße gelandet war, fragte aber nicht, da er nicht indiskret erscheinen wollte. Stattdessen sagte er nur: „Übrigens: Ich bin Rick. Und wie heißt du?“
Nachdem Brandon sich vorgestellt hatte, fiel Rick nichts mehr ein, was nichts mit Brandons Situation und der wirtschaftlich-sozialen Situation im Allgemeinen zu tun hatte. Er verabschiedete sich mit dem unausgesprochenen Vorsatz, am nächsten Tag wiederzukommen. Als er jedoch am nächsten Tag wiederkam, war von Brandon und seinem Lager weit und breit nichts zu sehen.
Brandon … wie es ihm wohl ergangen war? Ob er noch lebte? Ob er wieder ein Dach über dem Kopf hatte? Brandon und so viele andere. Die Stadt war voll mit Menschen, die ihr Zuhause verloren hatten und seitdem auf dem kalten Boden schliefen.
Die Geschichte von Brandon war mit den Zimtrollen nicht zu Ende, und die von Rick und den Obdachlosen hatte gerade erst begonnen.
Am nächsten Tag war er mit seiner Kamera losgezogen, in der Hoffnung, Brandon am selben Ort wiederzufinden, doch, wie bereits erwähnt, war dem nicht so. Stundenlang hatte er die Innenstadt abgesucht, bis er ihn vor einem Fastfood-Laden in der Suffolk Street fand. Rick besorgte warmes Essen und Getränke für sie beide und setzte sich zu ihm. Brandon war damit einverstanden, dass Rick ihm Fragen stellte und das Aufnahmegerät mitlaufen ließ. Dabei erfuhr Rick, dass Brandon eine Lehre als Mechaniker begonnen, aber nicht beendet hatte, weil die Miete so dramatisch erhöht worden war, dass er und seine Mitbewohner sie nicht mehr hatten bezahlen können und auf der Straße gelandet waren. Obwohl sich die Wirtschaft seit Kurzem langsam erholte, war Brandon noch nicht wieder auf die Füße gekommen. „In die alte Arbeitsstelle kann ich nach einem Jahr Unterbrechung nicht mehr zurück. Ohne Wohnung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung.“ Brandon hob die Hände, drehte die Innenflächen nach oben und ließ sie kraftlos wieder fallen. Auch Rick wusste nichts, was er, als der reiche Sohn, der er nun mal war, darauf hätte sagen sollen.
Er gab Brandon sein gesamtes Bargeld, knipste ein paar Fotos von ihm und hoffte, ihn wiederzusehen. Doch nur zweimal hatten sich ihre Wege seither gekreuzt. Das war ungewöhnlich, wie er herausgefunden hatte, denn viele Obdachlose blieben lange Zeit am gleichen Fleck.
***
Das Gespräch mit seinem Vater war drei Tage her. Seitdem hatte Rick seine gemütliche Penthouse-Wohnung in ein Studio verwandelt und es nicht mehr verlassen. Es war einzig Susans und Alexandras Fürsorge zu verdanken, dass er nicht halb verhungerte, denn sie versorgten ihn mit selbst gekochtem Bami Goreng und Spaghetti Bolognese, Obst, Brot und anderen Dingen, die sie für gute, kreative Arbeit unverzichtbar hielten. Harvey-Harper, der im Lauf der Zeit zu seinem besten Freund geworden war, weilte auf Tournee in seinem Heimatland, was Alexandras üblicherweise so freudig strahlendes Gesicht ein wenig trübte und sie stundenlang an ihren Laptop fesselte, um mit ihrem Schatz zu skypen. Dafür verbrachte Calum immer mehr Zeit in Susans Apartment und in dem Kraftraum, den sie in Darraghs verwaister Wohnung eingerichtet hatten, als in seinem Einzimmerapartment, das er nach der Trennung von seiner Freundin in Blanchardstown bezogen hatte.
Und die Zwillinge? Die erholten sich noch von der Wiener Affäre, wie das Abenteuer mit den beiden Österreichern hausintern augenzwinkernd bezeichnet wurde. Die Männer waren ein oder zwei Mal hier und die Zwillinge zwei Mal dort gewesen und hatten neben schönen Erinnerungen einen bleibenden Schatz an neuen Rezepten eingeheimst, was die irische Kundschaft immer wieder aufs Neue in Entzücken versetzte. Da jedoch weder die Männer noch die Frauen zu einem Umzug in ein anderes Land bereit waren, hatten sie den Spaß vor zwei Wochen beendet. Seitdem trieben die Frauen sich vermehrt allein durch das Dubliner Nachtleben.
„Brauchst du noch etwas?“, erkundigte Susan sich gerade und schaute über seine Schulter auf den Bildschirm.
Rick sah auf und strich sich mit der flachen Hand über das Gesicht. „Nein, ich glaube nicht. Nur eine Pause und frische Luft.”
„Hey, das klingt aber mal vernünftig!”, antwortete sie lachend und ging mit ihm auf die großzügige Dachterrasse, von der aus man an klaren Tagen sogar das Meer sehen konnte. Davon war in der Dunkelheit natürlich nichts zu sehen, nur die Lichter der Stadt funkelten unter und vor ihnen.
„Du, Susan, sag mal: Wie ernst ist es denn mit dir und Calum?“, wollte Rick wissen und atmete tief die frische Herbstluft ein. Sie war so feucht, dass seine Haut entspannte.
„Oh“, kicherte sie leicht verlegen. „Also, mir ist es sehr ernst. Aber warum fragst du?“
„Und ihm?”
„Ich kann natürlich nicht für ihn antworten, aber ich glaube, es geht ihm genauso.“
„Mhm“, machte Rick nachdenklich und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Dort unten, auf der Straße, schliefen Menschen in ihre Jacken, Schals und Schlafsäcke gemummelt und froren hoffentlich nicht zu sehr.
„Weißt du, Susan, eine Wohnung ist eine Wohnung.“
„Ja …“, antwortete Susan gedehnt und schaute ihn fragend an.
„Also, was ich sagen will, ist, dass er gern bei dir einziehen kann, wenn er will. Ich habe nichts dagegen.“ Er bemerkte, dass Susans Mundwinkel zuckten und sich ihre Augen weiteten, sprach aber unbeirrt weiter. „Er würde sich nicht nur viel Geld für das Garconniere sparen, sondern auch Zeit und Geld für die Fahrt zur Arbeit. Abgesehen davon könnte jemand, der die Wohnung dringender braucht als er, dort einziehen.“
Susan schluckte und rang nach Worten. „Ich … wow, das kommt ein bisschen unerwartet, und etwas früh. Aber … Prinzipiell natürlich gern.“
„Ich will euch nicht drängen.” Rick hob abwehrend die Hände. „Es war nur ein Vorschlag.“
„Danke. Ich weiß, dass du uns nicht drängen willst. Es ist nur total lieb von dir und es zeigt, wie viele Gedanken du dir machst.“
Rick zuckte die Schultern, legte dann einen Arm um seine gute Freundin und zog sie an sich. „Ach, Susan. Ich bin froh, dass es euch gibt.“
„Danke, das bin ich auch“, antwortete sie sichtlich gerührt.
Dann verkroch er sich für weitere drei Tage in seiner Wohnung, solange, bis er mit dem Dokumentarfilm zufrieden war.
Es war ein Donnerstagabend. Calum war geschäftlich in Sligo, Harvey-Harper inzwischen in Linz, als Rick eine Message an die Verbliebenen der House Gruppe schickte. „Fertig! ? Essen im Shabby Shamrock um acht?“
Schneller als er schauen konnte, trudelte ein „Jaaaa!” nach dem anderen ein.
An Tagen wie diesen war es von Vorteil, James Mahoneys Sohn zu sein, denn ihm gehörte das Restaurant und so war es ein Leichtes, in dem stets ausgebuchten Lokal einen Tisch für fünf zu ergattern.
Rick saß bereits an dem runden Ecktisch und hatte schon eine Platte mit kalten Vorspeisen für alle bestellt, als Alexandra und direkt nach ihr die Zwillinge eintrafen. Nur Susan entschuldigte sich schriftlich und teilte mit, dass sie etwa eine Viertelstunde später eintreffen würde. Die Freunde bestellten zur Feier des Tages ihre Lieblingscocktails und orderten schon einen Singapore Sling für Susan mit. Die Cocktails waren gerade serviert worden, als eine Frau, deren Kleidung an die Susans erinnerte, sich ihrem Tisch näherte. Doch auch wenn sie sich wie Susan bewegte und eindeutig ihr Kleid, ihre Jacke, ihre Tasche trug, so war es doch nicht Susan. Dann Susan hatte langes, blondes Haar und diese Frau einen hellbraunen Pagenkopf. Neugierig verfolgten sie mit, wie die Frau zu ihnen an den Tisch kam, mit einem kurzen und farblos lackierten Zeigefinger auf das Glas zeigte und fragte: „Hey, ist der etwa für mich?“
„S… Susan?“, stammelte die sitzende Gruppe, deren Kinnladen allesamt fast auf den Tisch fielen. „Bist du das?“
„Ja! Erkennt ihr mich etwa nicht?“, kicherte sie da und drehte sich schelmisch von links nach rechts, damit alle sie von allen Seiten bewundern konnten.
„Susan! Wahnsinn! Was hast du denn gemacht?”, riefen alle durcheinander und sprangen auf. Natalie musste Susans kurzes Haar sogar anfassen, um zu glauben, was sie sah.
„Aber – warum denn?“
„Susan, deine Haare!“, rief Rick verzweifelt und zog eine schmerzverzerrte Grimasse. „Dein Gold! Oh, Susan!“
„Och, Rick, nicht weinen!”, scherzte sie und tätschelte ihm aufmunternd die Schulter.
Der wollte sich jedoch nicht beruhigen lassen und heulte theatralisch und wrang die Hände in der Luft: „Was wird Calum dazu nur sagen? Der arme Calum! Jetzt zieht er nie bei uns ein!“
„Ha! Das möchte ich auch gern wissen! Aber wisst ihr was?”, fragte sie und schaute in gespannte Gesichter. „Er hat oft gesagt, dass er natürliche Frauen gut findet und dass mir meine Naturfarbe bestimmt auch gut steht. Und na ja – das ist so in etwa mein Naturton, so genau weiß ich das schon gar nicht mehr. Mmpf! Ist es zu glauben?“, lachte sie ausgelassen. „Ich weiß gar nicht mehr, wie meine eigene Haarfarbe aussieht!“
„Wow, Susan!“, staunte Alexandra und nahm ihre Freundin wortlos in die Arme. Dann flüsterte sie ihr ins Ohr: „Du siehst wunderschön aus. Es steht dir total gut und passt genau zu deinem neuen Selbstbewusstsein. Echt, Susan: Ich freue mich für dich.”
Fröhlich tranken sie auf Susans Frisur und die Fertigstellung des Films. Es wurde ein lustiger und langer Abend, an dessen Ende die Zwillinge beschlossen, endlich von Ciaras Frühschicht Gebrauch und mit Rick Temple Bar unsicher zu machen. So verabschiedeten sich Susan und Alex gegen 23 Uhr in Richtung Wohnung, während die anderen sich ins Dubliner Nachtleben stürzten.
***
Im Blue Train to Texas, einem angesagten Club, tranken und tanzten die drei zunächst ausgelassen weiter.
Erschöpft legte Natalie in einer Pause einen Arm um Rick und ihren schweren Kopf an seine Schulter. „Sag mal, Rick, bist du wegen Anastasia eigentlich noch traurig?“, nuschelte sie an sein Ohr, und ihr heißer Atem kitzelte seine Haut.
„Anastasia? Wer? Ach so, die! Nein, schon lange nicht mehr“, wiegelte er ab, denn er wollte nicht an das blonde ukrainische Model denken, dem er die halbe Welt zu Füßen gelegt hatte. Trotzdem stach die Erinnerung an ihre letzten Worte wie ein Messer in seine Brust. „Du bist ein Weichei, ein Versager, der es im Leben nie zu etwas bringen wird. Du lebst nur von deinem Vater. Und nicht mal mit dem verstehst du dich gut genug, als dass es mir etwas geholfen hätte!“
„Wirklich?“, bohrte Natalie sanft nach und strich mit der Fingerspitze sanft über seinen Hals.
„Hey, Nat, lass das!“ Er lachte, ergriff ihre Hand und schob sie von sich weg.
„Sorry, Rick, ich wollte nur …“
„Schon gut.“
„Schwesterherz! Zeit zum Heimgehen, wenn du dich schon an deinen besten Freund ranmachst!“, schaltete Melanie sich ein und hakte sich bei Natalie unter. „Und du, Rick, kommst am besten gleich mit. Es ist schon fast ein Uhr, wir müssen morgen früh raus!“
„Erst? Der Abend hat doch …“ Rick sprach nicht weiter, sondern drehte sich zu dem Mann, dem die Hand gehörte, die soeben schwer auf seiner Schulter gelandet war. „D… Danny?“, stammelte er. Neben ihm stand ein breitschultriger Kerl mit Totenkopf- und Tribal-Tattoos auf den starken, enthaarten Armen. Er trug ein eng anliegendes T-Shirt, unter dem sich seine Muskeln spannten. In sein pechschwarz (gefärbtes) Haar war ein angesagtes Muster rasiert.
„Yo, man! Rick! Effin‘ cool, ey! Long time no see! Yo, man!”, grölte er und schlug ihm mit der Hand so fest auf den Rücken, dass Rick unweigerlich einen Schritt nach vorne machte.
„Ja … wirklich lang her!“, versuchte Rick, auszuweichen und sich aus dem Griff zu winden.
„Hätte ich nicht gedacht, dich hier zu treffen. Cool, was! Komm, Kumpel, was trinkst du?“
„Heute nichts mehr, danke! Wir wollten gerade gehen“, antwortete Rick freundlich.
„Genau!“, fuhr Natalie schneidend dazwischen und zerrte an Ricks Ärmel. „Komm jetzt! Wir gehen.“
„Oh, so eine strenge Mammy aber auch, was?“, dröhnte Dannys Lachen zu ihm. „Kumpel, ich versteh schon. So eine heiße Braut würde ich mir auch nicht entgehen lassen. Also, schau, dass du in die Kiste kommst, hehe. Ich meld mich! Cheers, Man!“ Er hob die Hand, streckte zwei Finger in die Luft und schaute ihnen nach, wie sie den Club verließen.
„Wer war das denn?“, zischte Melanie, als sie vor dem Club in der kühlen Nachtluft standen.
„Danny. Ein alter Schulfreund.“
„Sch… Moment. Schul-Freund?“, fragte Natalie gedehnt. „Aber doch nicht etwa der Danny?“
„Doch. Genau der“, gab Rick knapp zur Antwort und biss sich auf die Unterlippe.
„Puh, Unkraut vergeht einfach echt nicht, oder?“, stöhnte Melanie und legte den Kopf in den Nacken. „Pass bloß auf, Rick, der …“
„Ich weiß, ich weiß!“, unterbrach er sie unwirsch. Danny war nicht gut. War es nie gewesen. Von ihm hatte er zu Schulzeiten den ersten Joint, die erste Line, den ersten Trip bekommen. Seinetwegen wäre er beinahe hinter Gittern und auf Entzug gelandet. Er atmete tief durch und blieb nach einigen Metern stehen. „Ich weiß, sorry, Nat und Mel. Ich weiß. Danke, dass ihr damals für mich da wart. Ohne euch …“
„Das wissen wir!“, unterbrachen sie ihn und legten von beiden Seiten einen Arm um ihn. So gingen sie weiter, bis sie nach wenigen Minuten ihr Haus erreicht hatten.

Autor: ela

Ich denke, träume, knipse, lache, lese, schreibe und dabei vergess ich nie meine Lieben. Vielleicht unterhalten wir uns ja hier, ich würde mich auf jeden Fall sehr freuen und wünsche viel Spaß hier auf meinem Blog.

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