Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Katharina Mosel


Und damit habe ich euch heute wieder einmal eine wundervolle Leseprobe ergattert. Dieses Mal bekommt ihr einen kleinen Einblick in den Roman „Vier mal Frau“ von Katharina Mosel. 
Vorher möchte ich euch noch den passenden Buchtrailer, welchen mir die Autorin ebenfalls als Link mitgeschickt hat, hier einstellen:
Und nun ist hier die versprochene Leseprobe für euch. Viel Spaß dabei und lieben Dank an Katharina dafür.
Leseprobe:
Vier Mal Frau

Cecilia kam in die Küche. »Haben wir dich mit unserem Gezänk vertrieben? Hoffentlich nicht. Dabei bist du doch heute diejenige, um die wir uns kümmern wollen. Komm, lass mich das nehmen.« Sie nahm ihr das Besteck und die Teller aus der Hand. »Hast du beim Pizzadienst angerufen? Ich muss dringend etwas essen, sonst bin ich gleich betrunken.« Mona folgte ihr ins Wohnzimmer, nachdem sie vorher noch eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank geholt hatte.
»Oh«, meckerte Julia, als sie die Wasserflasche in Monas Hand sah. »Gibt es jetzt nur noch Wasser, und das heute, wo ich eine Fahrerin habe, die mich abends nach Hause bringt? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Jetzt mach mal halb lang,« erwiderte Mona. »Die Pizza kommt gleich und zumindest ich kann nicht nur Sekt trinken, aber bediene dich. Im Kühlschrank stehen noch zwei Flaschen. Und wenn die geleert sind, habe ich noch Wein. Alles, was wir heute trinken, muss nicht mehr mit umziehen. Übrigens könnt ihr heute gerne hier schlafen. Die eingepackte Bettwäsche finde ich bestimmt schnell und Cecilia kann dann auch mehr trinken. Oder muss eine von euch morgen ganz früh raus?«
»Mit ›eine‹ kannst du nur Julia meinen. Du weißt doch, dass ich vor zehn Uhr nicht anfange.« Cecilia arbeitete vormittags als Führerin im Völkerkunde-museum, nachmittags und abends gab sie Yogaunterricht.
»Ich habe morgen früh keine Termine und kann daher ausnahmsweise später ins Studio kommen. Wir können uns also einen richtigen Mädelsabend machen. Alkohol gibt es wohl genug und die Pizza kommt gleich. Fehlen eigentlich nur noch Chips und Gummibärchen und am späteren Abend vielleicht ein Softporno. Der Fernseher steht ja noch da, bei welchem Streamingdienst bist du denn?«
»Das meinst du doch wohl jetzt nicht wirklich ernst, oder?« Mona war wirklich entsetzt.
Sie hatte noch nie im Leben einen Pornofilm an-gesehen.
Ob sie das den Freundinnen anvertrauen sollte? Sie merkte, wie sie rot wurde.
»Julia, nicht jeder denkt über Sex so wie du. Schau mal, Mona ist das peinlich.« Cecilia stellte das Geschirr auf den Couchtisch und trat neben ihre Freundin. Julia hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und spielte mit ihrem Wasserglas.
»Natürlich meine ich das ernst. Heute beginnt für dich ein neues Leben, das hast du selber gesagt. Warum soll das neue Leben nicht mit einem knackigen Männerarsch beginnen, gebannt auf Zelluloid?«
»Julia, also wirklich!« Cecilia kicherte.
Mona setzte sich langsam in den Sessel und musterte die Freundinnen. Sie hatte den beiden in den letzten Monaten alle Einzelheiten der Trennung berichtet, hatte mit ihnen geheult und gelacht, da konnte sie nun auch die letzten Geheimnisse noch ausbreiten. Sie griff nach ihrem Sektglas und trank es in einem Zuge leer. Dann holte sie tief Luft. »Ich habe noch nie einen Pornofilm gesehen und noch nie mit einem anderen Mann als Lars geschlafen. So, jetzt wisst ihr über mich Bescheid.«
Cecilia setzte sich neben Julia auf das Sofa und schob sie ein wenig zur Seite. Beide sagten kein Wort und sahen Mona stumm an.
Nach einer für Mona gefühlten Ewigkeit brach Julia in ein schallendes Gelächter aus. Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie: »Oh mein Gott. Du willst sagen, dass du seit über einem Jahr keinen Sex mehr hattest? Es wird wirklich Zeit, dass du nach Hamburg kommst. Wir finden da schon einen Partner für dich.«
»Ich will keinen Partner, ich bin froh, wenn ich erst einmal alleine lebe.«
Mona setzte ihr Glas geräuschvoll auf dem Tisch ab.
»Mona, Schätzchen«, mischte sich Cecilia mit ruhiger Stimme ein. »Sie meint Sexpartner, nicht Lebenspartner. Und da bin ich ausnahmsweise einmal ihrer Meinung. Ein regelmäßiges Sexleben ist wichtig für die Gesundheit.«

 

Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Sandra Pulletz


Ach ich bin gerade echt glücklich, hat mich da doch noch eine liebe Autorin angeschrieben und mir, für euch, eine wundervolle Leseprobe zukommen lassen. Dann schaut doch einfach mal und habt Spaß beim Lesen.

Alpensternküsse

Inhalt: Wie unfair! Paula soll ihrer Tante in den Tiroler Alpen helfen, während ihre Eltern eine Kreuzfahrt machen. Doch Paula hat einen weiteren Grund, auf der Berghütte auszuharren: Wenn sie eine Homestory über den ortsansässigen Serienstar ergattert, darf sie auf eine Beförderung beim Stadtmagazin hoffen.

 


Aber nichts scheint so einfach, wie zunächst gedacht. Eine Alpenkatastrophe jagt die nächste, Paula erliegt dem Charme des Stars, während Bergführer Jockl trotz seiner Abneigung der Städterin aus so mancher Klemme hilft. Als dann noch die Almresi mit ihren hautengen kurzen Hosen auftaucht, brennen nicht nur bei Paula die Sicherungen durch … (Text © Amazon.de)

 

Und hier die Leseprobe:


 „Alpensternküsse“
1.
Paula warf schwungvoll die Autotür des Taxis zu und stöckelte auf ihren nagelneuen Sandalen die Auffahrt zu ihrem Elternhaus entlang.
Keine zwei Sekunden, nachdem sie geklingelt hatte, öffnete ihr Vater Ralf die Haustür. Es war, als hätte er bereits auf sie gewartet. Freudestrahlend blickte er seine Tochter an und umarmte sie dann herzlich. »Paula, Liebes! Es ist so schön, dass du da bist!«
Paula ließ sich drücken, wenngleich sie erstaunt über Vaters gute Laune war. »Ist etwas passiert?« Sie drückte sich leicht von ihm weg. »Du bist ja so fröhlich!«
»Ist das etwa ein Vorwurf?«, wollte Ralf wissen und kniff seinen Mund gespielt beleidigt zusammen. »Darf man nicht mehr ausgelassen und bestens aufgelegt sein?«
»Doch … natürlich«, erwiderte Paula. »Das ist nur ein ungewöhnlicher Empfang heute.« Ansonsten dauerte es immer eine Ewigkeit, bis ihr Vater zur Tür schlurfte und diese mit gleichgültigem Blick öffnete.
»Herein mit dir!« Paulas Vater schwang keck den Arm durch die Luft.
 Paula nahm diese Geste als eine Einladung wahr und trat stirnrunzelnd ein. Sie ging direkt in das Wohnzimmer, ohne sich die roséfarbenen Peeptoes von den Füßen zu streifen.
»Hallo, Engelchen!«, wurde sie von ihrer Mutter Eleonore begrüßt. Diese stolzierte gerade mit einem Tablett in den Raum, auf dem drei gefüllte Sektgläser standen.
Jetzt wurde Paula eindeutig klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Zuhause hatte es noch nie mittags Sekt gegeben. Eleonore stellte die Gläser auf den Couchtisch und hauchte Paula ein Küsschen auf die Wange.
»Was ist los?«, wollte Paula nun endlich wissen.
»Wir haben tolle Nachrichten, Engelchen!« Eleonore bekam glitzernde Augen.
»Was denn? Einen Lottosechser?«, erwiderte Paula ironisch. Nach den Reaktionen ihrer Eltern zu urteilen, lag sie vielleicht gar nicht so falsch. Ihr Vater setzte ein Strahlen auf, das von einem Ohr zum anderen reichte und ihre Mutter wischte sich tatsächlich eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Sozusagen«, antwortete Ralf amüsiert.
»Nun lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen!«, rief Paula ungeduldig.
»Geduld ist eine Tugend!«, mahnte ihre Mutter.
»Also gut«, murmelte Paula und setzte sich auf das Sofa. Sie schnappte sich ein Glas von dem Tablett. »Wir sollten wenigstens schon mal anstoßen«, meinte sie. »Auch wenn ihr mir den Grund anscheinend nicht verraten wollt. Aber Sekt sollte man eiskalt genießen. Wenn wir noch länger warten, wird er zu einer lauwarmen Brühe!«
Der spitze Blick ihrer Mutter entging Paula nicht, jedoch hatte sie keinen Nerv für ewiges Rätselraten und Herumsitzen.
»Wir haben eine Kreuzfahrt gewonnen«, rückte Ralf schließlich mit der Sprache heraus.
»Ach ja?« Paula blickte gespannt von ihrem Vater zu ihrer Mutter. Beiden stand die Freude ins Gesicht geschrieben. Kurzerhand schnappte Eleonore die restlichen zwei Sektgläser, drückte ihrem Mann eines in die Hand und stieß mit ihren Liebsten auf den bevorstehenden Urlaub an.
»Du sagst ja gar nichts«, meinte ihre Mutter beinahe beleidigt.
»Ich freue mich natürlich für euch«, sagte Paula rasch. »Ihr habt euch die Auszeit mehr als verdient!«
Ihr Vater zwinkerte ihrer Mutter auffordernd zu. Dann leerte er das Glas in ein paar Zügen, was Paula wiederum verunsicherte. »Ist sonst noch etwas?«
»Wo du uns darauf ansprichst …«, begann Eleonore zögernd. »Du kannst dich doch sicher an Tante Franziska erinnern?«
Paula dachte kurz nach, schüttelte dann jedoch den Kopf.
»Sie wohnt in einer Hütte«, half Ralf ihr auf die Sprünge. »Mitten in den Bergen.«
»Ach ja, ich weiß schon …« Tatsächlich fiel Paula ein, dass es vor einigen Jahren, als ihre Oma noch lebte, einen Riesenstreit in ihrer Familie gegeben hatte. Tante Franziska litt angeblich unter einem Burn-outund wollte in den Bergen ein neues Leben anfangen. Oma reagierte darauf ziemlich verständnislos. Für sie war ein Burn-out eine Ausrede unserer Gesellschaft, sich vor den unangenehmen Dingen des Lebens zu drücken. Immerhin arbeitete Tante Franziska bei einer Bank. Ein angemessener Job, wie Oma gefunden hatte. Eine Hütte in den Bergen hingegen war in ihren Augen ein absoluter Rückschritt. Doch Tante Franziska hatte sich nichts sagen lassen und war daraufhin verschwunden. Der Kontakt zum Rest der Familie war regelrecht abgebrochen worden. Bis auf ein paar Briefe und hin und wieder einen Telefonanruf herrschte Stille.
»Was ist mit Tante Franziska?«, fragte Paula neugierig.
»Die Sache ist die …«, druckste ihr Vater herum. »Sie wohnt auf einer abgelegenen Almhütte.«
»Und?« Paula nahm einen großen Schluck von ihrem perlenden Getränk.
»Sie hat sich irgendwie die Schulter verletzt …«, ergänzte er langsam.
Plötzlich wurde Paula unruhig. Sie rutschte auf dem Sofa hin und her.
»Eigentlich wäre dein Vater zu ihr gefahren«, mischte sich nun auch Eleonore ein. »Doch jetzt haben wir ja diese Kreuzfahrt gewonnen …«
Paula ahnte bereits, wo dieses Gespräch hinführen würde. Ihr Herz begann schneller zu klopfen. »Ihr denkt hoffentlich nicht, ich würde zu Tante Franziska fahren?«
Verlegen blickte ihr Vater zu Boden, während ihre Mutter sie mit ernster Miene ansah. »Genau so ist es«, sagte sie. »Du schuldest uns ohnehin noch einen Gefallen.«
Paula rollte die Augen. »Nicht schon wieder dieser alte Hut!« Nur, weil ihre Eltern Paulas Studium finanziert hatten! Was hatte sie auch Germanistik in Kombi mit Medienwissenschaften auswählen müssen? Ein Studium, das ihr Vater ihr eingeredet hatte. Laut ihm hatte man mit diesem Abschluss große Karrierechancen. Dabei wollte sie eigentlich Designerin werden. Paula liebte es, Outfits zu entwerfen und nähte gerne. Nur hatte sie bis jetzt keine Idee und vor allem null Zeit für die Umsetzung ihres Traumberufes, denn ihr Job verlangte ihr die ganze Kreativität ab.
»Außerdem hast du ohnehin Zeit!«, fügte ihre Mutter in ernstem Tonfall hinzu.
»So kannst du das doch nicht sagen …«, setzte Paula zu ihrer Verteidigung an. Sie war mit ihrem Job komplett ausgelastet.
»Aber du arbeitest doch als Journalistin, oder?«, mischte sich nun wieder ihr Vater ein.
»Das schon …« Paula fühlte sich überrollt. Klar durfte sie sich ihre Arbeitszeiten im Prinzip selbst einteilen. Wenn sie wollte, konnte sie sogar nachts oder am Wochenende arbeiten. Hauptsache, die verlangten Artikel waren zu den vereinbarten Terminen fertig. Wo sie arbeitete, blieb ihr normalerweise selbst überlassen. Das war allerdings nicht immer so, manchmal schickte ihre Chefin sie auch an bestimmte Orte, um zu recherchieren.
»Du wirst wohl kaum verlangen, dass wir unsere Kreuzfahrt absagen?« Eleonore starrte sie mit durchdringendem Blick an.
»Natürlich nicht«, begann Paula. »Aber … Gibt es niemanden sonst, der …«
»Nein!« Die Mutter schnitt ihr das Wort ab. »Sonstige Verwandte sind unzumutbar! Und aus!«
»Das ist eine tolle Möglichkeit, deine Tante mal besser kennenzulernen«, versuchte ihr Vater die gekippte Situation zu retten.
»So kann man es auch sehen …«, antwortete Paula resigniert. Andererseits konnte Tante Franziska doch auf einen Stadtbesuch kommen, fand sie. Wenn sie ohnehin Hilfe brauchte …
»Also?« Eleonore musterte sie prüfend.
»Okay, ich werde zu Tante Franziska fahren.« Paula setzte ein schiefes Lächeln auf. »Zuerst muss ich aber in die Redaktion und das mit meiner Chefin absprechen!«
»Prima, das wird ja wohl klappen«, meinte Paulas Mutter besänftigt. »Und sonst machst du eben mal Ferien!«
Paula nickte zwar, dachte jedoch, dass sie ganz bestimmt keinen wertvollen Urlaub nehmen würde, nur um dann bei ihrer Tante auszuhelfen.
»Vielleicht kleidest du dich vorher noch passend für die Berge ein?« Ihre Mutter warf einen Seitenblick auf Paulas hochhackige Schuhe.
»Du sagst doch dauernd, ich soll sparen«, beklagte sich Paula, die bei bestem Willen nicht daran dachte, Geld für ein paar einfache Kleidungsstücke auszugeben. Sie sparte ihr Gehalt immer für wenig, dafür aber teure Markenware. Oder für flippige Designerteile, die ab und zu auch aus dem Secondhandshop stammten.
Paulas Vater seufzte, erhob sich und marschierte zur Garderobe. Sie wusste, dass er dort seine Geldbörse aufbewahrte. Tatsächlich zog er zwei grüne Scheine aus dem Portemonnaie, als er zurückkam. »Hier, kauf dir einen warmen Pulli und vielleicht noch eine Regenjacke! In den Bergen kann es schnell abkühlen!«
Dankend nahm Paula das Geld an und steckte es rasch in ihre Tasche, die farblich hervorragend mit ihren Peeptoes harmonierte.
»Wanderschuhe könnten auch nicht schaden«, fügte Paulas Mutter wohl wissend hinzu.
»Ja, danke für deinen Rat, Mama«, bemerkte Paula, rollte aber mit den Augen, sobald ihre Mutter wegsah. Was sollte sie denn mit popeligen Wanderschuhen? Igitt!
Paula verabschiedete sich bald, jedoch nicht, ohne die Adresse von Tante Franziska eingesteckt zu haben, und mit tausend Versprechungen, die sie ablegen musste. Ja, sie versprach, auf sich aufzupassen, auf Tante Franziska Rücksicht zu nehmen, ordentlich anzupacken und vieles mehr.
Paula ging sofort ins Büro. Sie musste dringend mit ihrer Chefin Ulrike sprechen, denn sie sollte bereits am nächsten Tag mit dem Zug nach Tirol fahren. Wenn das mit der Genehmigung ihrer Chefin nicht klappte, hätte sie ein Problem. Schnell schlüpfte sie in die Toilettenräume und warf einen Kontrollblick in den Spiegel. Wie üblich hatte sich die eine oder andere Strähne aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst, die Paula bei der Affenhitze meist trug. Dennoch war ihr heiß. Kurzerhand tränkte sie ein Einmalhandtuch mit kaltem Wasser und wischte sich über Nacken und Hals. Das tat gut.
Dann zückte sie ihr pinkes Lieblings-Lipgloss aus der Handtasche und betupfte damit ihre Lippen. Fertig! Zufrieden betrachtete sie sich von allen Seiten im Spiegel und zupfte an ihrer engen, lichtblauen Bluse, die perfekt mit ihrer Augenfarbe harmonierte. Die paar dunkelblonden Strähnen, die sich gelöst hatten, steckte sie wieder hoch, und befand schließlich, dass sie Weltklasse aussah. Gleich würde sie ihrer Vorgesetzten unter die Augen treten und selbstbewusst erklären, dass sie ein paar Tage oder womöglich sogar Wochen im Home-Office arbeiten würde. Normalerweise sollte das kein Problem darstellen, solange sie ihre Texte pünktlich ablieferte.


2.
»Du kannst jetzt nicht einfach Urlaub nehmen!«, fauchte Paulas Chefin.
»Ich brauche ja auch keinen Urlaub …«, meinte Paula kleinlaut.
»Was dann?« Ulrike schnappte nach Luft. »Du platzt hier ohne Termin rein und faselst etwas von familiärem Notfall und Wegfahren.«
»Ich arbeite ohnehin meist im Home-Office …«, fügte Paula schüchtern hinzu. »Da ist ein Ortswechsel doch eigentlich egal, habe ich mir gedacht.«
»Was du nicht alles denkst!« Ulrike durchbohrte sie mit ihrem eiskalten Blick. »Kaum wird es Sommer, meint jeder meiner Angestellten, Urlaub zu brauchen oder unter blauem Himmel arbeiten zu müssen!«
»Im Prinzip ändert sich doch nichts … Also in meinem Fall …« Paulas Stimme wurde leiser. Sie hatte großen Respekt vor ihrer Chefin.
»Bla bla und quak quak. Das sagte jeder, der mich in den letzten Tagen um Extraurlaub angebettelt hat.« Ulrike funkelte sie mit wütenden Augen an. »An mich denkt natürlich niemand! Als ob ich es nicht nötig hätte, mal aus diesem Irrenhaus rauszukommen«, schimpfte sie. »Aber einer muss nun mal die Stellung halten!«
Paula erwiderte nichts darauf. Sie wusste, wann es am besten war, zu schweigen. Denn ihre Chefin tat immer so, als würde sie selbst die Monsterleistung in der Firma ablegen. – In Wirklichkeit plusterte sie sich wegen jedem Wölkchen auf, bis es zu einem Orkan mutierte.
In Paulas Stirn machte sich ein Druck bemerkbar. Sie durfte sich nicht weiter aufregen, sonst würde sie noch einen Migräneanfall erleiden! Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein und aus.
»Wo soll es überhaupt hingehen?«, fragte Ulrike.
»In die Alpen … in der Nähe von Innsbruck«, antwortete Paula. »Ich muss meiner Tante auf der Alm helfen.«
Ulrike grunzte. »Beim Kühemelken?«
»So ähnlich. Sie hat eine Almhütte und ist verletzt.« Paula hoffte inständig, dass sie keine Tiere pflegen musste. Sie wusste nicht, ob ihre Tante einen Bauernhof besaß oder nicht.
»Das klingt aber nach Urlaub.« Ihre Chefin kniff die Lippen zusammen.
»Bestimmt nicht. Außerdem habe ich dort ausreichend Zeit, um ein paar neue Artikel zu verfassen. Falls du zufällig etwas über Mode hast …« Paula hoffte jedes Mal, dass ihre Chefin ihr das Okay gab, einen Text über angesagte Designer zu schreiben. Die Zeitschrift Grand Graziabeschäftigte sich mit Trends, berühmten Persönlichkeiten und sonstigen interessant erscheinenden Dingen. Allerdings hatte das Magazin keinen großen Erfolg, und deshalb war auch Paulas Gehalt nicht allzu großzügig.
»In München gibt es doch diesen Jungdesigner, der gerade in aller Munde ist.« Paula lächelte hoffnungsvoll. »Ich bin gut im Recherchieren.«
»Ein anderes Mal vielleicht.« Ulrikes Augen flackerten für einen Augenblick auf. »Wo fährst du hin, hast du gesagt? Innsbruck?«, murmelte sie plötzlich, eher zu sich selbst.
Hastig tippte sie auf ihrer Tastatur und blickte dann gespannt auf den Bildschirm vor ihr.
»Du bekommst unter einer Bedingung frei«, erklärte Ulrike dann gelassen. Sie lehnte sich in ihrem Drehstuhl nach hinten und drehte spielerisch ihren Kugelschreiber zwischen den Fingern um dessen Achse. Ihr Blick schwenkte vom Computerbildschirm zu Paula. Ulrike sah sie mit einem teuflischen Grinsen an. »Du bringst mir eine Titelstory!«
Paulas Kehle schnürte sich zu. Sie bekam kaum noch Luft. »Eine Titelstory? Ich? Wirklich?«, krächzte sie aufgeregt. Panik und Freude erfassten sie zugleich. Bis jetzt hatte sie nur unwichtige Artikel verfassen dürfen. Die Titelstory wäre ein ganz anderer Brocken, schließlich stach die Titelseite jedem sofort ins Auge. Das wäre die Chance, endlich beruflich voranzukommen!
»Ja, du hast schon richtig gehört«, schnurrte Ulrike. »Aber es muss was echt Tolles sein, etwas Besonderes!«
»Ich … ich werde bestimmt das Passende finden …«, stotterte Paula, die ihr Glück nicht fassen konnte.
»Und ob du das wirst!« Ulrike lächelte triumphierend. »Du wirst mir nämlich eine Homestory über Tobias Manzaretti liefern. Der wohnt in der Nähe von Innsbruck. Im Stubaital!«
»W-was?« Paula dachte, sie hätte sich verhört. »Tobias Manzaretti, der Serienstar?«
»Genau der!« Ihre Chefin nickte und scheuchte Paula gleich darauf aus ihrem Büro. »Wenn du deinen Auftrag gut hinbekommst, wirst du befördert. Darauf wartest du doch schon ewig, oder?«
Artig nickte Paula. In der Tat würde sie gerne interessantere Aufträge bekommen. Diese Homestory war ihre große Chance! Ihre Fingerspitzen kribbelten bereits vor Aufregung.
»Auf, auf! Und dass du mir ja nicht ohne grandiose Story wieder auftauchst! Sonst …« Sie machte mit ihrer flachen Hand eine schnelle Bewegung über ihre Kehle und stierte Paula an.
»Sonst … werde … ich gefeuert?« Paulas Mund wurde trocken. »Dein Ernst?«
Ulrike schob sich ihre runde Eulenbrille höher auf die Nase und grinste Paula dabei an. »Habe ich je Scherze gemacht?«
Paula runzelte die Stirn. Nein, ihre Chefin war keine gutgelaunte Frohnatur, die gerne mal einen Witz machte, sondern besaß ein Gemüt, das man eher als cholerisch beschreiben konnte.
Sie erhob sich aus dem Stuhl, verabschiedete sich und verließ das Büro. Vor dem Eingang schnaufte sie erstmal durch. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?


3.
»Was soll das heißen, du fährst weg?« Marco schnappte entsetzt nach Luft. Paula hatte sich kurze Zeit nach dem Gespräch mit ihrer Chefin mit ihrem besten Freund in einem Gastgarten in der Innenstadt getroffen und ihm gerade schonend beigebracht, dass sie den Sommer über nicht in der Stadt sein würde.
»Lässt deinen allerliebsten Kumpel alleine. Schäm dich!«
Paula setzte einen entschuldigenden Blick auf. »Sorry, hat sich so ergeben, und wild bin ich gar nicht darauf!«
»Das kann ja jeder behaupten!« Marco kniff die Lippen zu einem Strich zusammen.
Paula kannte ihn nur zu gut, deshalb wusste sie, dass er nicht wirklich so eingeschnappt war, wie er tat. Er war eben ein guter Schauspieler.
»Außerdem muss ich dort arbeiten!«, fügte Paula hinzu.
»Selbst schuld, wenn du mitten in die größte Einöde fährst!« Marco streckte ihr frech die Zunge heraus.
»Haha!«, erwiderte Paula und hob ihm ihren Aperol-Spritz entgegen. »Na dann, Prost!«
»Cheers! Auf einen schönen Sommer«, kommentierte Marco und zwinkerte Paula zu. »Ohne mich.«
Die Gläser klirrten leise und beide tranken einen Schluck.
»Bin froh, aus dieser Affenhitze rauszukommen!« Paula lehnte sich gemütlich in dem Stuhl zurück und beobachtete die Menschen um sie herum. »Und diese schwitzenden halbnackten Leute werden mir auch nicht fehlen.«
»Ach was, gefallen dir etwa keine Riesenschweißflecken an T-Shirts? Oder Chicas im Bikini in der Stadt?« Marco deutete mit seinem Kopf nach links. Ein paar Meter neben ihnen, direkt auf dem Platz, lagen drei Mädels rund um den Springbrunnen herum und sonnten sich. Dabei trugen sie tatsächlich nur ein Bikinioberteil und knappe Shorts dazu.
»Schrecklich! Und sowas läuft mitten in der Großstadt herum«, brummte Paula, die immerzu sehr bedacht darauf war, sich modisch zu kleiden.
»Wieso kann nicht jeder ein wenig Modebewusstsein an den Tag legen? Wenigstens gehst du immer top gestylt außer Haus.« Sie betrachtete ihren Kumpel, der sogar bei den heißen Sommertemperaturen eine lange Hose und ein gepflegtes Hemd trug.
»Auf jeden Fall! Ich hasse Herrenbeine in kurzen Hosen und Flipflops dazu.« Er tat, als müsse er würgen. »Na dann bin ich mal gespannt, was du so von den Menschen auf der Alm berichten wirst. XL-Strümpfe und Knickerbockerhosen!«
Paula hatte daran noch gar nicht gedacht. Aber was sollte es schon. Mit ihrer Tante auf der Alm, abgeschieden vom Rest der Welt, würde sie ohnehin kaum Kontakt zur Außenwelt haben.
»Apropos Outfit! Mein Dad hat mir vorhin etwas Geld zugesteckt. Für adäquate Kleidung, wie er meinte.«
Marco hob die Augenbrauen. »Na dann müssen wir die Kohle glatt noch auf den Putz hauen!«
Paula grinste. »Sehr wohl!«
Nach dem Erfrischungsgetränk machten sie sich auf den Weg zu Paulas Lieblingsladen. Fette Beats dröhnten ihnen entgegen und sie stöberten begeistert zwischen schicken Outlet-Kleidern, gewagten Tops und sexy Hot Pants. Denn obwohl es gerade Hochsommer war, gab es bereits den ersten Summer-Sale. Da musste Paula einfach zuschlagen; sie konnte gar nicht anders. Marco war ein äußerst guter Berater, und sie liebte es, mit ihm einkaufen zu gehen. Er war es aber auch, der sie an die Alpen erinnerte und daran, dass Paula nichts Passendes anzuziehen hatte. Nicht unbedingt erfreut suchte sie aber tatsächlich nach einem Pulli und wurde bald fündig. Strickoptik, schneeweiß, angenehm zu tragen. Den könnte sie ja im Herbst im Büro anziehen.
An der Kasse musste sie feststellen, dass sie sich mal wieder verschätzt hatte. Im Kalkulieren war Paula grottenschlecht. Egal, ob es sich dabei um zu kochende Spaghetti, die Zeit für einen Artikel oder Geldausgaben handelte.
Fast das gesamte zugesteckte Geld von ihrem Vater ging drauf.
Unruhig verließ Paula den Laden. Marco stolzierte ihr hinterher.
»Was ist los?«, wollte ihr Begleiter wissen. Er kannte Paula inzwischen schon viele Jahre und wusste, wenn mit ihr etwas nicht in Ordnung war.
»Ich brauche noch dringend feste Treter …«, antwortete sie mit schlechtem Gewissen. Paula ahnte, dass sie gute Schuhe niemals für ihr kleines Budget bekommen würde. Schweigend marschierten sie in Richtung des nächstbesten Schuhgeschäftes. Dort probierte Paula ein Paar Wanderschuhe nach dem anderen an. Jedoch konnte sie mit diesen klobigen Dingern einfach nichts anfangen. Ein Blick auf den Preis ließ sie ohnehin erstarren.
Kurzentschlossen kaufte Paula einen simplen Turnschuh. Das musste fürs Erste reichen. Toll, alles erledigt zu haben! An der Kassa entdecke sie noch Sonnenbrillen im Sonderangebot. Dafür gab sie ihren allerletzten Cent aus.
Marco fuhr Paula in seinem blauen Mini Cooper nach Hause. »Auf jeden Fall hast du ein paar schicke Teile erstanden, die diesen Manzaretti wohl beeindrucken werden!«
»Ich hoffe es sehr, denn ich brauche dringend die Homestory! Sonst kann ich meinen Aufstieg auf der Karriereleiter vergessen.«
»Das kriegst du schon hin!« Er lächelte sie aufmunternd an. »Ich glaube fest an dich.«
»Wenn du nicht wärst …«, flötete sie und warf ihrem besten Freund einen dankbaren Blick zu. Mit seiner Pilotenbrille sah er verdammt cool aus.
Keine zwei Minuten später waren sie vor Paulas Wohnhaus angelangt, wo sie sich voneinander verabschiedeten.
»Melde dich mal«, meinte er.
»Klar doch«, erwiderte sie frohen Mutes.
»Nicht, dass du mir untreu wirst und mit einem Mountainman abzischst.« Er zwinkerte Paula zu.
»Quatsch, du Doofi! Du bist doch mein allerliebster Kumpel!« Sie umarmten sich ein letztes Mal, dann ging Paula nach oben in ihre winzige Wohnung und suchte einen Koffer.
Nachdem sie alles sorgfältig gepackt hatte, surfte sie im Netz nach Tobias Manzaretti. Sie wollte so viele Einzelheiten wie möglich über ihn erfahren. Das würde ihr bei der Homestory behilflich sein. Außerdem wusste sie noch nicht mal, wie sie ihn dazu bringen sollte, ihr einen Einblick in sein Zuhause zu gewähren.
Zunächst wurden ihre Knie weich, denn sie war auf die Bilder-Ansicht von dem Serienstar gegangen. Zwar hatte sie einige Folgen der Krimiserie, in der er mitspielte, gesehen, aber dass er auf den Fotos so heiß aussah, damit hatte sie nicht gerechnet. Ihre Hand zitterte leicht, als sie mit der Maus von Bild zu Bild klickte. Wie konnte ein Mann nur so verführerisch wirken? Aus seinem markanten Gesicht stachen die eisblauen Augen hervor. Dunkle Locken umrahmten seine Züge. Ein prickelnder Schauer rieselte Paula über den Rücken. Sie war völlig gefesselt. Sofort suchte sie im Netz nach Informationen darüber, ob Tobias Manzaretti eine Freundin hatte. Sie fand mehrere aktuelle Schlagzeilen, die über Ärger mit seiner Ex berichteten. Laut Suchmaschine war er also Single. Paula schmunzelte. Sie nahm sich fest vor, diesen Stern am Promihimmel zu erobern, wenn sie schon die Chance dazu bekam. Vielleicht hatte sie ja endlich mal Glück in der Liebe? Sie war nun schon viel zu lange alleine. Die meisten Männer waren doch bloß irgendwelche Idioten, die eine Putzfrau wollten und dass man ihnen jeden Wunsch von den Augen ablas. Aber dieser Schnuckel, den Paula gerade am Bildschirm anhimmelte, der strahlte das gewisse Etwas aus. Paula war sich sicher: Tobias Manzaretti war nicht so wie die anderen Kerle!


4.
Der Wecker klingelte bei Sonnenaufgang. Paula erhob sich schwerfällig aus dem Bett. Sie musste sich beeilen, denn ihr Zug fuhr bald. Zunächst saß sie allein im Zugabteil. Eine Weile vertrieb sie sich die Zeit mit der Planung eines Artikels für die Zeitschrift. Irgendwann wurde sie aber so müde, dass sie ihre Notizen wegpackte und ein wenig döste.
Mit einem Mal drang eine Stimme an ihr Ohr. »Hallo? Sind Sie wach?«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, murrte Paula im Halbschlaf. »Setzen Sie sich, wohin Sie wollen. Hier ist genug Platz …«
»Ich denke, Sie müssen in Innsbruck aussteigen?«, fragte die männliche Stimme freundlich.
»Ja, und bis dahin möchte ich schlafen.« Paula stöhnte. Wieso wurde ihr bloß keine Pause vergönnt?
Es folgte ein Räuspern. »Wir stehen bereits auf dem Hauptbahnhof in Innsbruck. Wenn Sie sich nicht beeilen, fährt der Zug mit Ihnen weiter.«
Mit einem Schlag war Paula putzmunter. »Ist das ein Scherz?«
Zugleich wurde ihr klar, dass es keiner war. Denn in der Schiebetür stand der Schaffner und schaute sie abwartend an. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sie wirklich schon am Ziel angekommen war. Eine blaue Tafel mit der Aufschrift »Innsbruck« war zu sehen.
Paula sprang aus dem Sitz hoch, hievte ihr Gepäck von der Ablage herunter und eilte aus dem Zug. Dem Schaffner rief sie im Vorbeigehen noch einen Dank und Gruß zu.
Wenig später stand sie mitten auf dem Bahnsteig und war wie benebelt. Die Luft war heiß und stickig. Sie bekam nur schwer Luft. Und nun? Sie hatte von zuhause telefonisch einen Chauffeur bestellt, der sie vom Bahnhof abholen und auf den Berg fahren würde. Nur konnte sie diesen Herrn Sepp nirgends entdecken. Paula schnaufte durch, zog ihren Koffer hinter sich her und durchquerte die Bahnhofshalle, bis sie nach draußen gelangte. Hier stellte sie sich an die Wand des Bahnhofsgebäudes und betrachtete die Umgebung. Sie staunte, denn sie war umringt von Bergen. Zu ihrer linken Seite befand sich die Bergisel-Schanze. Diese berühmte Sprungschanze kannte vermutlich jeder, der gerne Skispringen im Fernsehen sah. Paula fand es überwältigend, so dicht daneben zu stehen. Beinahe hatte sie das Gefühl, die Schanze reiche bis in die Stadt.
»Griaß di! Du muascht des Madal sein, desch i auf die Hüttn führa soll! I bin da Sepp.« Ein älterer Herr um die fünfzig mit Schnauzer und grauem Haar sprach Paula an. Zunächst war sie sich nicht sicher, ob er tatsächlich sie meinte. Doch der Mann blieb direkt vor ihr stehen und wartete auf eine Reaktion.
»Meinen Sie mich?«, wollte Paula sichergehen.
»I denk scho!« Der Kerl lachte. »Oder willscht nit auf den Berg auffi?«
Paula blinzelte. Sie verstand den groben Dialekt ihres Gegenübers kaum. »Ich muss zur Alpensternhütte.«
»Jo, genau. Dann kimm!« Er deutete ihr, ihm zu folgen und schlug den Weg zu einem Parkplatz ein. Der Mann mit dem grauen Filzhut, an dem ein Edelweiß steckte, steuerte direkt auf einen olivgrünen Jeep zu. Paula hatte Mühe, ihm hinterherzukommen. Sie trug zwar ausnahmsweise keine hohen Hacken, sondern süße Wildlederpumps, das Tempo, das der Fahrer draufhatte, war jedoch nichts für untrainierte Damen wie sie. Längst war er beim Wagen angelangt und hatte den Kofferraum geöffnet. Paula hievte das schwere Teil hoch, aber der grauhaarige Kerl griff ihr unter die Arme und verfrachtete das Gepäckstück sicher hinein. Nun konnte die Fahrt losgehen. Zunächst mussten sie durch die Stadt. Paula betrachtete die Häuser und Straßen, die an ihr vorbeizogen. Sah gar nicht so anders aus als zuhause. Doch kaum waren sie aus der Innenstadt draußen, wandelte sich die Landschaft.
Sie blieben auf der Landstraße und durchquerten einige Dörfer. Schließlich erreichten sie den Fuß eines Berges und folgten der Straße, die sich immer weiter nach oben schlängelte.
Paula blickte konsterniert durch die Frontscheibe des Jeeps. So einen Ausblick hatte sie nicht erwartet. Imposante Gipfel, Wälder und Felder umringten sie.
»Hiaz samma glei do«, unterbrach Herr Sepp ihre Gedanken.
Ihr Chauffeur fuhr auf dem kurvigen Weg so schnell, dass es Paula nicht nur schwindelig, sondern auch übel wurde.
Paulas Magen drückte aber auch, weil sie nicht wusste, was sie erwarten würde. Dafür waren die Erwartungen ihrer Chefin an sie gewaltig. So eine Titelstory war nicht ohne! Paula hoffte, dass sie neben dem Hilfsdienst bei Tante Franziska genügend Zeit für ihren Artikel finden würde. Außerdem wusste sie noch nicht genau, was ihre Tante alles von ihr wollte. Sie hoffte, keine niederen Dienste wie das Bad oder die Toilette putzen erledigen zu müssen.
Plötzlich ächzte das Fahrzeug. Paula war sich nicht sicher, wie lange sie es noch in dem Jeep aushielt. Mit einer Vollbremsung blieb der Wagen auf einmal stehen.
»Ist das Auto kaputt?«, fragte sie Herrn Sepp entsetzt.
Der schüttelte den Kopf. »Mir san do.«
Durchgerüttelt stieg Paula aus. Die frische Bergluft drang ihr sofort in die Nase. Sie roch so rein, so klar. Kein Vergleich zu der smogbeladenen Luft in der Großstadt. Paula blickte sich um. Die Straße endete ein paar Meter hinter ihr. Sie waren auf einer Art Parkplatz mitten im Wald gelandet, der nicht einmal asphaltiert war. Die Wege führten in verschiedene Richtungen. Ringsherum wucherte dichtes Unterholz und bergab lag eine Wiese. Von einer Hütte war allerdings nichts zu sehen. Paula nahm an, dass diese einfach in einer uneinsichtigen Kurve lag.
»Wie weit ist es noch zur Hütte?«, wollte sie von Herrn Sepp wissen.
»Scho so zwanz´g Minuten. Je noch Tempo hoit … Maunchchmoi dauert´s a doppelt so laung, waunn de Wandersleut´ goa so untrainiert san.«
»Und wo geht die Straße weiter?«, fragte Paula aufgebracht. Ihr schwante Böses.
»Weiter geht´s nit mitm Wogn. Do muascht z´Fuaß auffi!«
Paula schluckte. Sie wünschte, sie hätte den letzten Satz nur geträumt.
Doch der Chauffeur ging bereits zum Kofferraum und wuchtete Paulas Gepäckstück heraus. Es plumpste direkt auf den dreckigen Erdboden.
»Bitte seien Sie vorsichtig! «, schrie Paula entsetzt auf. »Das ist ein teures Modell!«
Herr Sepp machte eine beschwichtigende Geste. »Hols und Beinbruch, gö! Richt da Fanny an liabn Gruaß aus!«
Ehe Paula nachfragen konnte, was er eben gesagt hatte, saß Sepp schon wieder im Jeep und trat aufs Gaspedal. Er drehte mit dem Wagen eine Schleife und brauste davon, nicht ohne dabei einen Haufen Dreck und Schlamm aufzuwühlen.
Paula hustete. Das hatte sie nun von ihrer Gutmütigkeit! Gestrandet mitten in der grünen Wildnis, ringsum gefährlich hohe Berge und jetzt sollte sie den Weg zur Hütte alleine zurücklegen? Sie sah sich um. Ein Schild wies auf eine »Alpensternhütte« hin. Da musste sie hin!
Der Boden vor ihr war matschig. Überall hatten sich kleine Pfützen gebildet. Hier musste es erst kürzlich geregnet haben. Entsetzt blickte Paula auf ihre taupefarbenen Wildlederpumps, die nach dem Aufstieg wohl nicht mehr zu retten sein würden. Bereits jetzt kroch eine ekelhafte Schlammschicht über die Sohle hoch. Ihr war zum Heulen zumute.
Mit einem tiefen Seufzer nahm sie den Haltegriff ihres Koffers und wollte ihn hinter sich herziehen, doch das Teil blieb sofort im Matsch stecken. Paula zerrte daran, bekam Übergewicht und plumpste selbst in den Dreck. Fluchend rappelte sie sich auf und wischte sich die schmutzigen Hände an ihren Designerjeans ab. »So ein Mist!«, schimpfte sie. Ihre Augen wurden feucht und sie schniefte frustriert.
Am liebsten würde sie umkehren und wieder zurück nach Innsbruck fahren. Konnte ihre Tante nicht einfach die Hütte schließen und sich ein paar Tage frei nehmen? Kurz überlegte Paula sogar, sie anzurufen und ihr diesen Vorschlag zu unterbreiten.
»Kann ich dir helfen?«, vernahm Paula auf einmal eine Stimme hinter sich.
War das etwa dieser Herr Sepp, der zurückgekehrt war und sie in ein Hotel bringen konnte? Blitzschnell drehte sich Paula um und blickte in kastanienbraune Augen, die sie belustigt musterten. Der Typ, der dazugehörte, sah auch nicht übel aus. Jugendliches Gesicht, dunkle zerzauste Haare, strammer Körperbau.
»Ich muss … den Berg hoch«, stammelte sie.
»Zur Alpensternhütte?« Der Kerl trat näher.
»Ja, genau!« Sie konnte spüren, dass sich all ihre Probleme lösen würden. Der Typ wirkte beruhigend auf sie und gab ihr eine Portion Vertrauen.
»Den Weg kenne ich!« Er betrachtete sie von oben bis unten. »Allerdings wären Wanderschuhe eher geeignet als Ballerinas.« Der Kerl mit den Wuschelhaaren schmunzelte, wobei sich freche Lachgrübchen links und rechts von seinem Mund bildeten.
»Das sind keine Ballerinas, das sind Pumps«, erwiderte Paula leicht gereizt. »Ich wusste ja nicht, dass ich einen Berg hochklettern soll!« Kritik an ihrer Kleidung konnte sie nicht ausstehen.
»Pack mer’s!« Der junge Mann wartete gar keine Antwort von Paula ab, sondern schnappte sich ihren Koffer und hob ihn auf seine Schultern. Mit schnellen Schritten marschierte er bergauf, ohne sich umzusehen, ob Paula ihm folgte. Das tat sie natürlich, wenn auch beschämt und viel langsamer, als sie eigentlich wollte. Mit den Schuhen blieb sie immer wieder im aufgeweichten Boden stecken. Sie bemühte sich, mit dem Fremden Schritt zu halten oder zumindest in Reichweite zu bleiben. Gelegentlich rutschte sie sogar ein kleines Stück rückwärts, da der Waldboden so glitschig war. Als sie über einen Ast stolperte und hinfiel, war sie vollends entmutigt. Paula hasste Sport und hatte genau null Ausdauer. Das bekam sie jetzt zu spüren. Sie seufzte laut.
»Alles in Ordnung?« Der junge Kerl tauchte neben ihr auf. Anscheinend hatte er überhaupt kein Problem den Berg hochzukommen. Und er musste ziemliche Muskeln besitzen, denn er trug den Koffer weiterhin, als hätte dieser ein Fliegengewicht.
»Geht gleich wieder. Ich muss nur mal kurz durchschnaufen«, krächzte Paula. Sie wünschte sich für einen Moment auch so klobige Schuhe zu tragen, wie ihr Begleiter. Er schien damit einen guten Halt zu haben.
Schließlich rappelte sich Paula auf und die beiden setzten den Weg fort. Paula keuchte den Berg hoch, dabei blieb sie immer weiter zurück. Einerseits konnte sie nicht mehr und andererseits wollte sie auf keinen Fall, dass der Kerl bemerkte, wie sie dahinschnaufte.
Kurz bevor Paula die Kräfte endgültig ausgingen, sah sie plötzlich eine Hütte vor sich. Der Typ mit ihrem Gepäck marschierte direkt darauf zu und stieß einen lauten Pfiff aus. Paula ließ die letzten Meter hinter sich und erreichte endlich die Berghütte. Gerade wurde die Tür geöffnet und eine korpulente blonde mittleren Alters Frau trat heraus. »Jo, wie siehst du denn aus?« Verwundert blieb sie vor Paula stehen und schüttelte den Kopf.
»Tante Franziska?«, keuchte Paula, die noch immer völlig aus der Puste war.
»Freilich bin ich´s! Was ist denn mit dir passiert? Bist leicht in den Dreck gefallen?« Sie warf dem Kerl mit dem Koffer einen fragenden Blick zu, der diesen bereits auf den Boden gestellt hatte und nun unwissend mit den Schultern zuckte.
»Ich hab´ ihr gesagt, dass diese Schuhe nix sind!«, brummte er.
Tante Franziska betrachtete Paulas Schuhwerk und kräuselte die Stirn. »Jössas!« Dann machte sie eine abwinkende Handbewegung und meinte: »Na, kann man ja alles waschen!«
Paula nickte nur und wagte nicht einmal, ihr die matschige Hand zu reichen, stattdessen musterte sie Tante Franziska interessiert. Einige Speckröllchen hatte sie zwar zu viel, aber ihr Gesicht wirkte überaus freundlich. Man sah ihr an, dass sie nicht viel Wert auf ihr Äußeres legte. Geschminkt war sie auf jeden Fall nicht und ihre blonden Haare wirkten zerzaust. Das Schlimmste waren aber die geschmacklosen Birkenstocks an ihren Füßen.
»Kimm erscht mol eina!«, meinte ihre Tante.
Ehe sie in die Hütte trat, drehte Paula sich nochmals zu dem jungen Mann um, der sie hochgeführt hatte. »Danke fürs Koffertragen!«
Er nickte ihr kaum merklich zu.
»Dank dir schön, Jockl!« Tante Franziska klopfte ihm auf die Schulter und ging dann hinter Paula her.
Paula fragte sich verwundert, was »Jockl« denn bitteschön für ein Name war, denn eigentlich passte der doch gar nicht zu dem Kerl.
Im Haus ließ sie ihrer Tante den Vortritt. Sie führte Paula in das Herzstück der Hütte. »Die gute Stube!«
Paula sah sich um. Das Häuschen war komplett aus Holz gefertigt. Der Raum, in dem sie gerade standen, beherbergte einen langen Tisch mit Sitzgelegenheiten, auf denen Lammfelle lagen. Auch auf der Terrasse hatte Paula vorhin zahlreiche Tische und Stühle bemerkt. Mit großen Augen schaute sie ihre Tante an. »Ich dachte, du wohnst alleine? Wozu brauchst du denn so viele Plätze?«
»Die Hütte gehört mir, das schon. Ich biete Wanderern eine Jause an. Da es manchmal recht voll wird, habe ich mir eine Hilfe geholt, die Resi. Die ist normal ebenfalls hier, aber zurzeit ist sie grad im Dorf, weil sie ihrer Schwester hilft. Die hat ein Baby bekommen!« Tante Franziska lächelte.
Paula verstand nicht richtig, obwohl ihre Tante gerade ziemlich schön Hochdeutsch gesprochen hatte. »Eine Jausenstation?«
»Genau!«

Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Katharina Münz


Damit ihr noch eine tolle weitere Bücher von Katharina Münz findet, hat sie mir noch eine Leseprobe zukommen lassen. Viel Spaß auch damit!

 

Aus der Zeit gefallen – Thórsteinn vs. Charlotte: Teil 2

 

Inhalt: Spritzig, leidenschaftlich, aus der Zeit gefallen

Ein Torso. So unvollständig fühlt sich Charlotte knapp zwei Jahre, nachdem ein lecker aussehender Fremder in A+-Gewandung ihr vors Auto und ins Leben gestürzt war. Denn noch ehe sie realisieren konnte, mit wem sie sich Hals über Kopf in ein prickelndes Abenteuer eingelassen hatte, war Thórsteinn, der aus der Zeit gefallene Wikinger, auch schon verschwunden. Findet sie jemanden, der das Loch in ihrem Herzen heilt, oder gibt es etwa die unwahrscheinliche Chance auf ein Wiedersehen?

Mit »Aus der Zeit gefallen« wagt die ›Edition Wikinger im Herzen‹ einen Genreausflug in Richtung New Adult/Urban Fantasy/Contemporary Romance-Mix.

Achtung! Bei diesem Taschenbuch handelt es sich um den zweiten Teil der Aus-der-Zeit-gefallen-Reihe, der nicht ohne Vorkenntnis des 1. Teilslesbar ist. Außerdem gibt es wieder ein Cliffhanger-Ende!

 


Wer »Aus der Zeit gefallen«
komplett lesen möchte, möge bitte die vollständige Veröffentlichung in ein paar Monaten abwarten! (Text © Amazon.de)

 

Leseprobe:

 

Teil 2 – knapp zwei Jahre später

Kapitel 1

Charlotte

Ich rücke meinen Rucksack zurecht und setze mir die Sonnenbrille auf die Nase, während ich aus der Seitentür des Geschäftshauses in der Michaelistraße trete. Ein Blick aufs Handy zeigt mir, dass ich es gemütlich angehen kann.
Dr. Jöns hat mich heute früher gehen lassen. Die Überstunden, die ich während der verzwickten Erbschaftsangelegenheit angesammelt habe, müssen irgendwann abgefeiert werden. ›Hatten Sie nicht erwähnt, dass Sie sich heute Abend mit Ihrer Freundin treffen?‹, fragte mein Chef und blickte väterlich über den Rand seiner mit Fingerabdrücken übersäten 3,99-€-Lesehilfe aus dem Supermarkt, als ich ihm die Akten zum Scheidungsfall Clausen ./. Clausen auf den Schreibtisch legte. ›Ja, richtig. Machen Sie früher Schluss. Und essen Sie ein Eis für mich mit.‹
Angesichts der Erinnerung, wie versonnen er dabei gelächelt hat, schließlich hat seine Frau ihm jeglichen Süßkram wegen seiner Diabetes untersagt, summe ich die Melodie des kommenden Sommerhits, und mir fällt ein, dass ich noch gar nicht weiß, wo ich meinen Urlaub verbringen soll. Aus dem Augenwinkel studiere ich die Plakate im Schaufenster des Reisebüros, das sich am Übergang zum Kornmarkt befindet, und die in leuchtenden Farben Lust auf Urlaub in verwunschenen Nebelwäldern Neuseelands oder an schroff in die Berge eingeschnittenen Fjorden Norwegens machen – nur um volle Kanne gegen den Werbeaufsteller der benachbarten Parfümerie zu knallen.
»Autsch!« Auf einem Bein hüpfend, halte ich mir das Knie und greife nach dem Gestell, bevor es noch ebenso zu Boden fällt wie meine Sonnenbrille.
Dabei streift mein Blick das Motiv des Posters, und mit einem Mal ist meine gute Laune verflogen.
›Primitivo per uomo – der Herrenduft von Torrie Strömberg jetzt auch als Pflegeserie‹ steht in fetten Lettern darauf, und als ob die Erwähnung von Thórsteinns Künstlernamen mein Herz nicht in ausreichendem Maß verletzen würde, ist er selbst natürlich auch abgedruckt. Formatfüllend und in brillanter Schärfe.
Den rechten Ellenbogen locker auf eine Kaimauer gestützt, sieht er am Betrachter vorbei auf die See und scheint das hagere Model, das an seine nackte Brust geschmiegt zu ihm hochschmachtet, überhaupt nicht wahrzunehmen.
Ich schließe die Augen. Das Echo der Gefühle, die mich beim erstmaligen Anblick dieses Werbefotos im letzten Vorweihnachtsgeschäft gepackt haben, lässt mich schwindelig werden.
Damals ertappte ich mich dabei, wie ich mit offenstehendem Mund auf den flimmernden Fernseher starrte, als der dazugehörige Spot zum ersten Mal lief. Trotz der Size-Zero-Maße des weiblichen Models war eine oberflächliche Ähnlichkeit mit mir nicht von der Hand zu weisen. Dunkle Augen, Stupsnase, verhältnismäßig füllige Wangen. Ganz zu schweigen von ihrer Frisur: ein lackschwarzer Pagenkopf mit violetten Strähnen, der, seitdem ich ihn getragen hatte, längst den schnelllebigen Zyklen der Modeindustrie zum Opfer gefallen war.
Dank der um sich greifenden Torrie-Strömberg-Hysterie hat sich das inzwischen um 180 Grad gedreht, das beweist mir der Anblick, als ich hochsehe, nachdem ich den Plakatständer endlich wieder aufgestellt bekommen habe. Allein auf dem kurzen Abschnitt des Kornmarkts in Richtung Möschenbrückstraße entdecke ich zwei Teenager und ein Mädel an der Schwelle zum Twen, die diesen Look tragen.
Mann, was bin ich froh, dass ich mich gleich damals, nachdem Åsa ihn zur Tür meiner Wohnung hinausgeschleppt hatte, zu einem krassen Umstyling entschied. Naturbraune, dank Echthaar-Extensions auf Schulterlänge gebrachte Locken lassen nicht erahnen, dass ich gewissermaßen das allererste aller Torrie-Strömberg-Groupies war.
Für die Dauer einer Zehntelsekunde erwäge ich, den Aufsteller ein weiteres Mal und zur Abwechslung mit voller Absicht umzuwerfen, denn die Art und Weise, wie Thórsteinn das T-Shirt des Models in ihrem Rücken hochgeschoben hat, um seine Fingerspitzen in den Bund ihrer Frottee-Shorts zu versenken, erinnert mich auf äußerst schmerzhafte Weise an den Wirbelsturm der Gefühle, den diese Berührung damals bei mir ausgelöst hat.
Von dem, was weiter geschah, ganz zu schweigen.
Ich bücke mich voller Entschiedenheit, hebe die Sonnenbrille auf und schiebe sie vor die Augen, die sich verräterisch wässrig anfühlen. Nein! Die Blöße gebe ich mir nicht, jetzt auf offener Straße in Tränen auszubrechen – so wie damals, als sich die Schlagzeilen auf den Titel der Klatschblätter überschlugen. ›Hat Torrie nun endlich seine Herzdame gefunden?‹, ›Wer ist die Frau, die den unbezwingbaren Torrie Strömberg gezähmt hat?‹, ›Beim Fotoshooting haben wir uns unsterblich ineinander verliebt, erklärt die neue Frau an der Seite von Supermodel Torrie Strömberg‹. Und so weiter.
Nicht, dass es zuvor keine ›mysteriösen Begleiterinnen‹ gegeben hätte. Nein, eigentlich hatten Thórsteinn schon bei seinem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit Schönheiten umschwirrt. Nun gut, es handelte sich um die Präsentation der Prêt-à-porter-Show im Herbst des gleichen Jahres und unansehnliche Frauen finden sich auf dem Laufsteg eher seltener ein.
Die Show war eh der Kracher, auch ganz ohne Thórsteinn. Denn nachdem mein Patenonkel für knapp drei Monate komplett von der Bildfläche verschwunden war, tauchte er damals mit einer absolut spektakulären Frühjahr-/Sommer-Kollektion auf, die in der gesamten Modeszene für Aufruhr und Begeisterung zugleich sorgte. Auf seine geniale Weise hatte er die farbenprächtigen Stoffe und Stickereien, die an Gewandungen auf Wikingermärkten erinnerten, mit geometrischen Schnitten kombiniert – und war, nach seiner Inspiration gefragt, bescheiden wie immer zurückgetreten und hatte fein lächelnd die Kunstfigur Torrie Strömberg präsentiert. Seine Muse.
Die Presseleute stachen einander aus mit ihren Vermutungen, dass Friedrich, der den Unfalltod seines Lebensgefährten vor über zwanzig Jahren nie verwunden hatte, nun doch einen neuen Partner gefunden hätte. Aber der Umstand, dass sich der angeblich bei den Großeltern in der Abgeschiedenheit nordschwedischer Wälder aufgewachsene ›Sohn‹ seiner persönlichen Assistentin umgehend ins Nachtleben stürzte und – wenn man den Klatschblättern Glauben schenken durfte, was ich tat, was blieb mir sonst übrig – nahezu jedes weibliche Wesen im Alter zwischen siebzehn und siebenundvierzig abschleppte, ließ diese Stimmen dann rasch verstummen.
Thórsteinn. Scheiße. Wie blöd bin ich gewesen? Verletzt von Aleks hatte ich mich nicht nur dem nächstbesten aus der Vergangenheit in die Jetztzeit gefallenen Wikinger an den Hals geworfen, sondern in den darauffolgenden zwölf Monaten auch noch meine Eignung für Promiskuität getestet. Das knappe halbe Dutzend Männer und die eine Frau bewiesen mir allerdings ziemlich nachdrücklich, dass ich für diese Lebenseinstellung nicht geschaffen war.
Ich taumele den Kornmarkt mehr entlang, als dass ich laufe, und in Anbetracht des unguten Verlangens nach einem Glas Rotwein, das mich vor ›Gérards Vinothek‹ packt, drehe ich auf dem Absatz um und stürme in Richtung Stadtweg.
Ginos Eiscafé! Zum Glück gibt es keine lange Schlange vor dem Außentresen.
»Carlotta!«, begrüßt mich Ginos Ehefrau. »Wie schön, dich zu sehen! Einen Latte Macchiato, wie immer?«
»Nein«, entgegne ich und studiere die Füllungen der verschiedenen Edelstahlwannen. »Heute brauche ich härteren Stoff. Zwei Kugeln …«
»Oh, was ist los mit dir, cara mia?« Francesca nimmt ein Waffelhörnchen und den Eiskugelformer zur Hand und schaut mich auffordernd an. »Stress im Job?«
 »Mhm.« Ich ziehe es vor, jetzt nicht das Fass meines verletzten Stolzes aufzumachen und nicke. Dann deute ich auf eine Eiscremesorte, die ebenso schwarz aussieht, wie ich mich gerade fühle. Innendrin. »Eine Kugel davon, bitte, und eine Kugel …« Meine Augen flitzen über das farbenprächtige Angebot und bleiben bei Rot hängen, blutrot, wie mein gebrochenes Herz. »… Himbeere, bitte.«
»Ahh, vaniglia-carbone!« Francesca bedenkt mich mit einem anerkennenden Augenaufschlag, während sie eine perfekte, schwarz glänzende Kugel formt. »Die anderen Schleswiger sind nicht so mutig wie du, cara mia. Schrecken vor der Farbe zurück, dabei hat mein Gino doch nur feinsten medizinischen Kohlenstaub unter die Vanille-Eiscreme gemischt. Aber, wenn ich eine Empfehlung aussprechen darf …?« Sie hält inne und sieht mich an. »… lamponepasst nicht dazu. Ich würde Gummibärchen-Lakritz nehmen, auch eine Erfindung von meinem Gino.« Sie sieht derart stolz aus, ich kann nicht anders und nicke ergeben.
Die verrückt klingenden Eiskreationen schmecken besser als ich gedacht hätte, und meine aufgewühlte Seele beruhigt sich ein wenig, während ich vom Stadtweg aus auf den sonnenüberfluteten Capitolplatz hinaustrete, um nur wenige Meter weiter erneut nach links, in die Straße Am Lornsenpark einzubiegen. Kaum habe ich den streng geometrisch gestalteten Eingangsbereich des Parks durchquert, schirmen die Hecken auch schon den – wenn auch mäßigen – Trubel der Stadt ab, und ich suche mir eine im Halbschatten eines Baumes liegende Bank am Ufer des Kälberteichs.
Sobald Eiscreme und Waffelhörnchen verspeist sind, hole ich das Handy aus der Tasche. Es dauert noch eine Viertelstunde, bis ich mit Maike rechnen kann, deshalb suche ich unter den installierten Apps nach SNIPSL, um einen weiteren, vorab zur Veröffentlichung präsentierten Textausschnitt aus dem romantischen Liebesroman zu lesen, den ich abonniert habe.
»… auch völlig weggetreten, Lotte!« Ein Schatten fällt auf das Handydisplay, von dem ich gebannt Wörter inhaliere. Die Latten der Bank erbeben, als Maike sich neben mich plumpsen lässt, und ehe ich mich versehe, hat sie mir auch schon das Smartphone aus der Hand genommen. »Lass mal sehen. Was liest du da? ›Sein Mund nähert sich dem Meinen, ich drehe das Gesicht weg und seine Lippen berühren stattdessen meine Wange. Sie ziehen eine heiße, prickelnde Spur zu meinem Ohr, dort nimmt er mein Ohrläppchen zwischen die Zähne, bis ich keuche und unter seiner Berührung in Flammen aufgehen will.‹ Aha.« Maike hält inne und sieht mich von der Seite her an.
»Das ist … nichts«, behaupte ich, spüre Hitze auf meinen Wangen und versuche, mein Handy zurückzubekommen.
»Dafür, dass es ›nichts‹ ist, kann es dich aber extrem stark fesseln«, stellt Maike fest und wischt auf dem Display weiter. »Lass mal mehr von dem ›Nichts‹ sehen. Ah, ja: ›Dabei möchte ich es nicht, dass er mich auf diese Weise anfasst. Das heißt, doch, mein Körper verlangt danach, einzig der Kopf sperrt sich dagegen und die bohrende Stimme des Drillzahns nagt darin, will wissen, wie es wohl ist, wenn der Falke Svalvör …‹«
»Gib schon her!« Ich versetze ihr einen Hieb mit dem Ellenbogen und nutze ihre Überraschung aus, um ihr mein Telefon wegzunehmen. Dann schalte ich es schnaubend aus und vergrabe es voller Entschiedenheit tief unter Packungen mit Papiertaschentüchern, dem Geldbeutel und dem ganzen übrigen Chaos in meinem Rucksack.
»Drillzahn, Falke und Svalvör …« Maike rollt mit den Augen. »Liest du jetzt etwa Wikinger-Schmachtfetzen? Reaktionären, heterosexuelle Beziehungen verklärenden Kitsch?«
Sowas lasse ich mir auch nur von einer Kampflesbe wie Maike sagen. »Das ist kein Schmachtfetzen, das ist nur eine Knisterszene aus einem wirklich gut recherchierten Roman«, verteidige ich mich und die Autorin gleichermaßen. »Außerdem gibt es auf SNIPSL auch genügend LGBT-Manuskripte für jemanden wie dich!«
»Ehrlich?« Interesse flackert auf in Maikes himmelblauen Augen. »Das wäre ja cool. Denn ehrlich gesagt habe ich die ganzen Ro… Moment mal!« Mit einem entrüsteten Schnauben unterbricht sie sich. »Wir reden hier nicht über mich, Frollein! Im Gegensatz zu dir besitze ich nicht nur ein erfülltes Sexualleben, sondern auch eine auf Dauerhaftigkeit angelegte Beziehung!«
Nicht das B-Wort! Darüber, ob man es als ›Beziehung‹ bezeichnen kann, wenn der Partner – oder, wie in Maikes Fall, die Partnerin – sich gut drei Viertel des Jahres im südamerikanischen Dschungel aufhält, um am Orinoko nach irgendwelchen Heilpflanzen zu forschen, haben wir uns schon zu oft gestritten. Ich winde mich und balle die Hände zu Fäusten, um keine bissige Bemerkung loszulassen, doch Maike ist, wie so oft, nicht zu bremsen, wenn sie dieses leidige Thema erst einmal angeschnitten hat.
»… nicht noch einmal probieren?«, schwallt sie mich von der Seite voll. »Mit diesem einen, du weißt schon. Der beim Landesdenkmalamt arbeitet … Der war doch ganz passabel!«
»Pappa?« Ich schäme mich ein bisschen dafür, wie ich die beiden Silben ausspucke. Pappa – der im echten Leben Bent Matthes heißt – war der absolute Tiefpunkt in meinem Selbsterfahrungstrip, um Thórsteinn zu vergessen. Absolut deshalb, weil er viel zu nett ist (und das meine ich nicht im Sinne von ›kleiner Bruder von Scheiße‹), als dass ich ihm das hätte antun müssen. Sollen. Dürfen.
»Ja, klar doch! Er sieht nicht schlecht aus …«
… aber auch nicht gut, widerspricht eine hinterhältige Stimme in meinem Kopf.
»… ihm steht eine aufsehenerregende Karriere als Archäologe bevor …«
… ebenso aufsehenerregend wie die Staub- und Sandspuren, die er nach einem Tag an einer Ausgrabungsstätte in der ganzen Wohnung hinterlässt …
»… und er war, glaube ich, wirklich ernsthaft an dir interessiert.«
Ja. Stimmt. Und das war das schlimmste. »Das weiß ich doch alles. Aber es …« Ich hole Luft. »Es hat bei uns auf zwischenmenschlicher Ebene nicht gestimmt.«
»Zwischenmenschlich?« Maikes Stimme trieft vor Hohn. »Du meinst wohl eher horizontal …«
Mit einem Ruck setze ich mich aufrechter hin. »Wenn du erlebt hättest, was mir zuteilwurde, würdest du deine geliebte Anouk nicht mal mehr mit dem Allerwertesten anschauen.«
»Meine Güte!« Maike lacht aus vollem Hals. »Noch geschwollener kannst du wohl nicht von deinem mysteriösen Finnen sprechen!« Sie macht eine Pause und sieht mich von der Seite her an. »Glaub mir, Schwänze werden überbewertet!«
Schwanz. Ich rolle die Augen. Für die Verwendung dieses Wortes könnte ich Maike würgen. Ganz zu schweigen von ihrem abwertenden Tonfall. »Ich rede doch nicht von seinem Glied!«, weise ich sie zurecht. »Das heißt, doch!« Meine Güte, Maikes hochgezogene Augenbrauen bringen mich aber auch komplett aus dem Konzept! »Aber zuvor … Du glaubst nicht, was dieser Mann mit seinen Händen fertigbringen konnte. Ich weiß auch nicht, was das für eine Stelle war, die er in meiner Scheide bearbeitet hat, aber sein Finger ha…«
»Sein Finger?«, unterbricht mich Maike mit gerunzelter Stirn. »Meinst du etwa G-Punkt-Massage?«
»Bitte?« Maikes technokratische Ausdrucksweise wirkt wie ein Eimer kaltes Wasser auf meine, angesichts der Erinnerungen, in Wallung geratenen Gefühle.
Doch Maike interessiert das nicht. »Aber, wieso das nun auf einmal?«, plappert sie weiter. »Als du mit Jessica rumgemacht hast – die übrigens trotz deiner Abfuhr immer noch glänzende Augen bekommt, wenn die Sprache auf dich kommt – hast du behauptet, das hätte dir überhaupt nicht gefallen!«
»Hat es ja auch nicht!« Meine Güte, wie soll ich meiner besten, aber stocklesbischen Freundin nur begreiflich machen, dass es etwas völlig anderes ist, ob ein Mann sowas macht, oder eine Frau? Das ist doch zum Aus-der-Haut-Fahren! Ich seufze. »Es tut mir ja auch leid, dass ich derart auf Männer stehe, dass man mich fast schon schwul nennen kann!«
Maike lacht, wie immer, wenn ich den uralten Spruch zitiere, mit dem sie mich am Ende der Mittelstufe, nachdem sie ihr Outing hatte, aufzuziehen begann, und ich weiß, das Eis ist gebrochen.
»Und, wie geht es dir … euch?«, frage ich mit einem Blick auf den enormen Babybauch, der sich in den letzten Tagen, seit ich Maike zuletzt gesehen habe, noch mal deutlich vergrößert zu haben scheint. »Alles im grünen Bereich?«
Mit einem Ächzen rutscht Maike ein Stückchen weiter nach vorn auf der Sitzfläche der Bank. »Laut Dr. Majer schon, aber wenn du mich fragst … Ich sterbe. Mittlerweile kenne ich jede Toilette hier in der Stadt.« Sie seufzt. »Mist!«
»Mist?«
»Ich hätte nicht davon sprechen sollen. Jetzt muss ich schon wieder.« Maike wuchtet sich von der Bank hoch. »Die Ecke hier ist eher dein Revier … Was meinst du, wo könnte ich …?« Sie sieht sich suchend um.
»Lass uns zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen!« Ich stehe auf und nehme meinen Rucksack über die Schulter. »Klo für dich, einen Chianti für mich und eine Pizza capricciosa für uns beide!« Auffordernd nicke ich in nördliche Richtung, wo sich mit ›da Pino‹ meine Lieblingstrattoria befindet.
*
Ein Glas kühlen, lombardischen Lugana für mich, zwei große Apfelsaftschorlen für Maike (falls ich mich je gewundert haben sollte, weshalb sie ständig aufs Klo rennen muss – jetzt habe ich die Erklärung) und eine extragroße Capricciosa später strecken wir uns genüsslich ächzend auf den Polstern der Kunstrattan-Sofas aus, mit denen Pino den Außenbereich seiner Trattoria gepimpt hat.
»Bringst du uns noch zwei Espressi?«, fragt Maike den Gastwirt, der unsere leergegessenen Teller abräumt, und er nickt schmunzelnd.
»Caffè?« Ich hebe nur die linke Augenbraue. Ist Koffein nicht schädlich für Schwangere?
Maike stöhnt und rückt ihren monströsen Bauch zurecht. »Den brauch’ ich jetzt. Sonst schlafe ich hier auf dem Sofa ein.«
Ich lehne mich auf den Rückenkissen nach hinten und lache. »Wär’ doch mal eine Abwechslung!«
»Du hast gut lachen«, grummelt sie und rührt das dritte Päckchen Zucker in ihren Kaffee, was mir einen Stich ins Herz versetzt, weil es mich an eine gewisse Person erinnert.
»Apropos Abwechslung«, ändere ich die Gesprächsrichtung. »Kommst du am Sonnabend?«
»Zur Geburtstagsparty deiner Mutter?« Maike gähnt herzhaft, besonders gut scheint der Espresso also nicht zu wirken. »Wenn ich es möglich machen kann? Allerdings sind wir schon über dem Termin …«
Ich runde die Summe, die auf der Rechnung steht, ordentlich auf und schiebe die Scheine zu Pino rüber, der sich in Komplimenten über Maikes blühendes Äußeres ergeht. »Dann ist Anouk schon aus Venezuela zurück? Weshalb hast du sie nicht mitgebracht?«
»Anouk?« Maike wuchtet sich schwerfällig hoch und schielt sehnsüchtig in die Richtung, wo die Toiletten liegen. »Wie kommst du darauf?«
»Naja, du hast ›wir‹ gesagt …« Ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, starre ich auf Maikes Rücken, der sich, nachdem sie etwas von ›Klo‹ gemurmelt hat, schnell entfernt.
»Zieh nicht so ein Gesicht, Carlotta«, ermahnt Pino mich.
»Tu ich gar nicht«, behaupte ich, obwohl ich weiß, dass er recht hat, denn in der Frage, ob ein Kind einen Vater braucht oder nicht, sind Maike und ich uns seit jeher uneinig. »Außerdem … Ist es nicht normal, dass heutzutage beide Elternteile bei der Entbindung dabei sind?«
»Ma sì, certo!« Pino, der mit uns in der Klasse war, grinst verwegen. »Sogar mein Bruder war dabei, als seine bambini geboren wurden – und er ist ein … wie sagt man auf Deutsch? … codardo
»Alberto ist doch kein Feigling!«, verteidige ich ihn mit einem Kopfschütteln, denn Pinos großer Bruder war damals, zu unseren Schulzeiten, der Schwarm aller Mädels. Einschließlich mir.
Aber Pino hat sich bereits neuankommenden Gästen zugewandt, dann ist auch schon Maike zurück, und wir verabschieden uns ein wenig überstürzt.
Es wird schon dämmrig, als ich mein Rad aus dem Hinterhof von Dr. Jöns’ Anwaltskanzlei hole. Schusselig, wie ich bin, habe ich natürlich vergessen, während der Arbeitszeit die Akkus aufzuladen, aber die knapp zehn Minuten nach Hause wird das Zwielicht schon ausreichen.
Ich schwinge mich auf den Drahtesel, trete in die Pedale und fädele mich in die Schleistraße ein.
Die Bugwellen der Boote, die nach einem sonnigen Maitag auf der Schlei nun den Yachthafen ansteuern, spiegeln ihre Positionslichter ins Hundertfache, und rufen mir in Erinnerung, dass ich seit bald zwei Jahren jegliche Orientierung in meinem Leben verloren habe.
Wütend stemme ich mich aus dem Sattel hoch und strampele gegen den scharfen Westwind an, der mir auf Höhe vom Schloss auf dem Gottorfer Damm entgegenschlägt. Denn wie schon viel zu oft flüstert eine hinterhältige Stimme in meinem Hinterkopf mir zu, es doch noch einmal mit Aleks zu versuchen. 
Seine Affäre mit Konstanze (›Es war ein riesengroßer Fehler, liebste Charlie!‹, höre ich seine Beteuerungen) war schnell vorüber, und seither hat er mir zu jedem Geburtstag, zu Nikolaus, Weihnachten und natürlich dem Valentinstag ein Präsent zuschicken lassen.
Die ich selbstverständlich alle umgehend zurückgehen ließ.
Ich meine, was denkt er sich? Wie soll eine Partnerschaft, Beziehung, eine Ehe und gar Elternschaft funktionieren, nachdem er mir derart nachdrücklich gezeigt hat, dass er nicht treu sein kann? Von dem Umstand, dass ich mich wie eine Verdurstende in Thórsteinns Arme geschmissen habe, ganz zu schweigen.
Schon halb auf dem Weg zum Eingang zum Wikingturm, mache ich halt, denn – wie könnte es anders sein – vor lauter Grübeleien habe ich die leeren Beleuchtungsakkus vergessen.
Als ich vor dem Aufzug stehe und gerade auf den Knopf drücken will, fällt mir ein, wie ich mit Thórsteinn hier stand – und dass selbst, wenn Aleks mich nicht mit Konstanze betrogen hätte, ich nicht mehr mit ihm zusammen sein könnte. Denn der Finne, der keiner war, hat mich gänzlich für alle anderen Männer verdorben.
Mit einem Seufzen steuere ich die Tür zum Treppenhaus an.
Ein bitteres Lächeln drängt sich auf meine Lippen. Wenn er mich jetzt sehen könnte! Ja, so oft ich in letzter Zeit schon die ganzen 25 Stockwerke hinaufgelaufen bin, habe ich einen noch nie zuvor dagewesenen Grad der Fitness erreicht – der sich auch nicht gerade unvorteilhaft auf meine Figur ausgewirkt hat, wie ich mir angesichts des kaum wahrnehmbaren Völlegefühls nach einer halben Familienpizza in Erinnerung rufe.
Naja, ein gutes Drittel. Maike isst aktuell ja für zwei …
Für zwei … Wie der Bohrer bei einer Wurzelbehandlung fräst sich der Neid in mein Herz, weil es Maike ist, die nie Familie wollte, die jetzt ein Kind bekommt – während ich, die ich mich neben Aleks schon ganz stolz bei Einschulungsveranstaltungen unserer Kinder sah, weniger Aussicht denn je habe, diesen Familienstand zu erreichen.
Klar, wenn ich es machen würde wie Maike, die vorhat, nach sechs Wochen Mutterschutz wieder voll einzusteigen als Leiterin der Buchhaltung in der Zentrale von Auto Buddersen.
›Die können nicht ohne mich‹, sagte sie und riss die Augen auf, als ich sie nach der Dauer ihrer Elternzeit fragte. ›Zwölf Niederlassungen in halb Schleswig-Holstein! Da kannst du nicht mal eben so jemanden zur Vertretung einarbeiten!‹
Ich schlucke, wie ich es damals tat angesichts ihres Seitenhiebs auf meinen wenig anspruchsvollen Job bei Dr. Jöns. Dann stehe ich auch schon vor der Wohnungstüre und höre das fordernde Plappern von Gnýr und Gollnir angesichts des Klapperns meines Schlüsselbundes.
»Ja, ja, ja!« Noch ehe ich meinen Rucksack drinnen ablegen kann, muss ich mich niederknien, um die beiden riesenhaften Kater zu streicheln, denn sonst bringen sie mich auf dem Weg zur Küche noch zu Fall. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist, meine Süßen! Aber einmal die Woche haltet ihr es doch aus, dass ich nicht gleich nach der Arbeit heimkomme?«
Das Geplauder der beiden – die Züchterin hatte mich vorgewarnt, es klingt wirklich nicht wie das Miauen von normalen Katzen, sondern eher wie Sprechversuche von Kleinkindern – steigert sich, während ich mit ihnen in die Küche gehe.
»Ja, habt ihr Hunger, meine Süßen, ja?« Ich öffne eine Dose ›Michelangelo deluxe‹, verteile das Nassfutter auf zwei frische Näpfe und frage mich, wie berufstätige Mütter das aushalten, die ihre Kinder den ganzen Tag nicht sehen – wenn mich die Wiedersehensfreude der Kater schon auf den moralischen Tiefpunkt zieht, weil mir einfällt, dass die beiden bereits am Sonnabend erneut auf mich verzichten müssen.
Mums Geburtstagsparty.
Absolut utopisch, auf meine Anwesenheit zu verzichten, auch wenn ich genau weiß, dass ich mich tödlich langweilen werde.
Geschlagene fünf Minuten stehe ich in der Küche, lausche dem Schmatzen, mit dem Gnýr und Gollnir ihre Näpfe leeren und hadere mit mir selbst, ob ich mir noch ein Glas Wein einschenken soll oder nicht.
Ehrlich, wenn ich so weitermache, werde ich noch zur Alkoholikerin!
Ich hole tief Luft, lösche das Licht und vermeide jeden Blick zum verführerisch prall gefüllten Weinregal. Stattdessen streife ich mir auf dem Weg ins Bad die Sneakers von den Füßen und ziehe mich aus. Nach einer Katzenwäsche und mit dem Geschmack von Pfefferminzzahnpasta auf der Zunge schlüpfe ich nackt, wie ich bin, zwischen die kühlen Laken meines viel zu großen und viel zu leeren Bettes.
Verfluchter Mist! Ich umschlinge mich selbst mit meinen Armen, streichele mich vergeblich auf der Suche nach Trost, und ein bitteres Lachen drängt sich meine Kehle hinauf, als der nachtschwarze Gnýr mich mit seiner feuchten Nase anstupst. Wahrscheinlich werde ich als eine jener durchgeknallten, alleinstehenden Katzenladys enden, die am Wochenende auf dem Bauernmarkt Spendengelder für die Katzenhilfe sammeln.
Denn eines ist sicher, das wird mir erneut bewusst, als ich meine Finger in Erinnerung an Thórsteinns kundige Berührung durch die Locken meiner Scham streichen lasse: Nachdem ich erleben durfte, wozu dieser Mann im Bett fähig war, kann und will ich nicht mehr mit B-Ware vorliebnehmen!
Dann lieber selbst Hand anlegen … Seufzend rolle ich herum, scheuche Gnýr und Gollnir mit meiner Bewegung aus dem Bett und beginne damit, mir die Liebkosungen zu schenken, nach denen es meine einsame Seele und den ausgehungerten Körper gleichermaßen verlangen.


Kapitel 2

Thórsteinn

Die dichte Grasnarbe des gepflegten englischen Rasens gibt unter den Ledersohlen meiner Schuhe nach, als ich mich vom Gedränge in der Nähe des Hauses entferne, das herrschaftliche Pracht ausstrahlt. Zielstrebig halte ich auf die Gestalt des Mannes zu, der in den letzten dreiundzwanzig Mondläufen mehr zum Vater für mich wurde, als es mein Erzeuger und Gerthar zusammengenommen jemals waren.
Ganz ins Gespräch mit Åsa vertieft, die darin aufblüht, uns beide nach Kräften zu umsorgen, bemerkt er mich erst, als meine vorgebliche Mutter einen Schritt zur Seite macht, um mich mit dem unvermeidlichen, doppelten Wangenkuss zu begrüßen.
Wie sehr ich mich an die beiden gewöhnt habe. Wahrscheinlich ist es dem Umstand gedankt, wie behutsam sie mich in den ersten Wochen, nachdem Friedrich mich in die abgelegene Einöde von Åsas nordschwedischer Heimat bringen ließ, darüber aufgeklärt haben, dass ich keinesfalls gestorben war.
Friedrichs Kopf bewegt sich um wenige Haaresbreiten in meine Richtung, weil sich das Lachen, das ich unterdrücke, als leises Schnauben seinen Weg aus meiner Nase bahnt.
»Seid mir nicht böse, meine zwei starken Jungs …« Der Zungenschlag, mit dem Åsas Worte gefärbt sind, umhüllt mich mit einem Sicherheit spendenden Gefühl der Vertrautheit. Sie hebt ihr leeres Glas auf Augenhöhe. »Aber Regen lässt das Gras wachsen, Wein das Gespräch. Ich muss dringend die Luft aus diesem Glas herauslassen.«
»Ich …« Da ich nicht weiß, wie ich anfangen soll, sehe ich ihr hinterher, wie sie zwischen den Leuten zu dem am Ufer des kleinen Sees aufgebauten Stand geht, wo Diener in einheitlicher Tracht Getränke ausschenken.
Friedrich Baumann regt sich unmerklich, ich ahne, dass er mich hinter seinen dunklen Brillengläsern aus dem Augenwinkel ansieht, und wie immer frage ich mich, ob der steife, bis unters Kinn reichende Hemdkragen es ist, der ihn daran hindert, den Kopf zu wenden, oder ob er ihn deshalb ständig trägt, um eine Steifheit des Nackens zu verbergen. Er hebt die Augenbraue, und fordert mich damit wortlos auf, weiterzusprechen.
Ich hole Luft und lege mir, wie einst, die Wörter im Kopf zurecht, die mir schwerer fallen und doch einfacher sind. »Es ist mir wichtig, deine Zustimmung zu erfragen, Friedrich«, beginne ich und versuche mich an einem gewinnenden Lächeln. »Du weißt, wie fremd mir noch so vieles hier ist. Deshalb: Erlaube mir, wie zu meiner Zeit üblich, dich um Erlaubnis zu fragen, Charlotte den Hof zu machen.«
»Ha, haha! Erlauben, um Erlaubnis zu fragen.« Er lacht sein Lachen, das vor Spott trieft, und bewegt die mit dicken Silberringen geschmückten Finger, als wolle er lästiges Ungeziefer verscheuchen. »Ist es dafür nicht ein wenig zu spät?«, fragt er mich, und insgeheim muss ich ihm zustimmen. »Nach alldem, was ihr beiden vor zwei Jahren …« Den Rest des Satzes lässt er unvollendet zwischen uns schweben.
»Vor zweiundzwanzig Mondläufen«, berichtige ich ihn, ehe mir richtig bewusstwird, was ich sage. »Nun, gut, fast dreiundzwanzig.« Ich lege den Kopf in den Nacken, schaue hinauf in die Kronen der hohen Bäume, die den Garten von Kay Sieveroths Villa beschatten, und spüre für die Dauer eines Atemzugs der Beunruhigung nach, die ihr Anblick immer noch in mir auslöst, weil ich sie aus meinem alten Leben nicht kenne.
»Rosskastanien.« Friedrichs grausam aufmerksamer Blick ist dem Meinen gefolgt, und ich muss voller Macht die Verärgerung darüber beiseiteschieben, mich unwissend zu fühlen wie ein Kind. Er kann sicherlich am wenigsten dafür, dass ich aus der Vergangenheit gefallen bin, und ich sollte dankbar dafür sein, was für ein dichtes Geflecht an Schutzmaßnahmen er und seine Angestellten – nicht Sklaven, Thórsteinn! – um mich errichtet haben.
»Ja. Rosskastanien.« Ich erinnere mich daran, dass ›Ross‹ ein Pferd bezeichnet, und fahre mir mit der Rechten durchs Haar, streiche es mir aus der Stirn, um das Wort in meinem übervollen Hirn zu verankern.
»Ganz abgesehen davon, dass ich der Falsche bin, den du fragst …« Friedrich kommt einen Schritt näher, ich nehme wahr, wie er unsere Umgebung einem Jagdhund gleich bewittert, und als er feststellt, dass niemand in der Nähe ist, zieht er die Brille auf seine Nasenspitze herab. Der Blick seiner Augen, die warmherzigsten und treuesten, in die ich je sah, in dieser Zeit und in der damaligen, richtet sich auf mich. »Ihr beiden solltet euch erst einmal kennenlernen, ehe du dir den Kopf darüber zerbrichst, ob du ihr den Hof machen willst.«
Das klingt einleuchtend. »Und, wo finde ich sie?«
»Das gefällt mir an dir.« Friedrich schiebt die Gläser mit dem Mittelfinger wieder hoch. »Zögerst nie lange, sondern packst jede Gelegenheit beim Schopf.« Er weist mit dem Daumen hinter sich. »Wie ich meine Patentochter kenne, verkriecht sie sich angesichts von Kays unzähligen Gästen in der Küche.«
In der Küche? Ich runzele die Stirn.
»Geh über die Terrasse ins Frühstückszimmer, da nimmst du die rechte Tür, und schon bist du dort«, erklärt Friedrich und lächelt unmerklich, woraufhin ich mich in Bewegung setze.
*
»Später, Darling«, wimmele ich Loretta May ab, die sich mir in den Weg stellt. Jetzt habe ich ganz sicher keinen Kopf, mich mit meiner Agentin über geplante Shootings abzustimmen. Nach rechts und links den Kopf neigend, das Gesicht zu jener unbestimmten Maske verzogen, die jedermann von meinen Ablichtungen kennt, bahne ich mir einen Weg durch das Gewühl im Garten.
»Ah, Darling, wissen Sie wo Friedrich steckt?« Kay hält mich am Ärmel meines sandfarbenen Maßanzugs fest. Um ihre Lippen hat sich ein Zug der Anspannung gelegt, und ich würde sie wirklich gern beruhigen – aber jetzt muss ich erst ihre Tochter sprechen.
Ich zeige hinter mich. »Dort hinten, unter den …« Wie heißen sie? Was hat Friedrich gesagt? »… Pferdebäumen?«
Charlottes Mutter, die schon einen Schritt in die angewiesene Richtung gemacht hat, hält inne, und ein Lächeln, das im Gegensatz zu sonst auch ihre Augen erreicht, flackert über ihr Gesicht. »Danke, Torrie«, spricht sie mich mit dem Namen an, den Friedrichs Marketingabteilung für mich erfunden hat. »Sie sind einfach köstlich. Jedes Mal schaffen Sie es, mich zum Lachen zu bringen – selbst wenn mir vor lauter Aufregung gar nicht zum Spaßen zumute ist.«
»Das regelt sich«, versuche ich sie zu beruhigen, obwohl ich gerade alles andere will, als mit ihr über ihre Sorgen zu sprechen. »Wie sagt man? Glück und … Glück?« Wörtlich übertragen ergibt die Redewendung keinen Sinn, und ich verziehe die Lippen.
»Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Friedrich und Ihnen bin.« Sie scheint meine Verunsicherung nicht zu bemerken. Stattdessen legt sie ihre langen, schlanken Finger auf mein Handgelenk, und fast fühle ich mich an die Geste der Schwestern erinnert, die damals, als ich nach meinem Aufprall in dieser Zeit im Siechenhaus lag, auf diese Weise nach meinem Herzschlag forschten. Doch schon hebt sie die andere Hand mit einem Sektglas. »Cheerio, Torrie!«, zwitschert sie urplötzlich vergnügt und haucht mir einen Kuss auf die Wange.

 

Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Katharina Münz

Ja hallöchen ihr Lieben, mich haben wieder einige wundervolle Leseproben von lieben Autoren erreicht und diese werde ich euch nun die nächsten Tage hier auf meinem Blog präsentieren. 
Dann fangen wir doch einfach mal mit der Autorin Katharina Münz und einem ihrer Bücher an. Viel Spaß beim Lesen!

Aus der Zeit gefallen – Thórsteinn vs. Charlotte: Teil 1 

Temporeich, lebensnah, aus der Zeit gefallen 

Reenactment. Charlotte bekommt Herpes, wenn sie nur an das Wort denkt. Auf matschigen Äckern Wickie spielen entspricht nicht gerade ihrer Vorstellung von einem gelungenen Wochenende, aber was tut sie nicht alles ihrem Freund zuliebe.




Doch dann erwischt sie Aleks mit ihrer – ehemals! – besten Freundin auf dem Mittsommerfest. Zutiefst verletzt flieht sie vom Museumsdorf, als ein lecker aussehender Fremder in A+-Gewandung ihr vors Auto und ins Leben fällt.

Mit »Aus der Zeit gefallen« wagt die ›Edition Wikinger im Herzen‹ einen Genreausflug in Richtung New Adult/Urban Fantasy/Contemporary Romance-Mix.

Achtung! Bei diesem E-Book handelt es sich um eine Art Vorab-›Single-Auskopplung‹mit Cliffhanger-Ende


Wer »Aus der Zeit gefallen« komplett lesen möchte, möge bitte die vollständige Veröffentlichung in ein paar Monaten abwarten! (Text © Amazon.de)

Leseprobe:


Teil 1

Kapitel 1

Charlotte

Links, rechts. Links, rechts. Links, rechts. Die Scheibenwischer zucken über die Frontscheibe, exakt im Gleichtakt mit dem aggressiven Beat, der aus den Lautsprechern schreit und die Türverkleidungen zum Vibrieren bringt. Doch so heftig die Gummilippen auch gegen den strömenden Regen da draußen anwischen, sie versagen kläglich im Kampf gegen die Schlieren vor meinen Augen – Tränen vermögen sie nicht wegzuschieben.
»Now, that you are gone«, kreischt die Stimme des Leadsängers, und ich brülle seine Worte mit, während ich mit den Fingern aufs Lenkrad trommele. »I finally realize that you were the goddess of my life.«
Gut, der Blick in den Rückspiegel auf mein verheultes Gesicht, das im Licht der vorüberhuschenden Straßenbeleuchtung von Fleckeby kurz aufleuchtet wie die Fratze eines Gespenstes, beweist mir, dass ich das schiere Gegenteil einer Göttin bin: Der streng geschnittene, lackschwarz gefärbte Bubikopf mit violetten Strähnen bemüht sich vergeblich, meine Pausbacken zu kaschieren, auch wenn Mums Edel-Coiffeur diese Wirkung noch so heftig beteuert hat. Und so verrotzt und rotgeheult wie ich im Moment aussehe, hasse ich den Anblick der viel zu kleinen Stupsnase noch mehr als sonst, die mitten in der Katastrophe prangt, die mein Gesicht darstellt.
Ich presse die Lippen aufeinander. Immerhin, ich habe Schluss gemacht, nicht er. Und auch wenn ich, wie ich gerade feststellen musste, kein bisschen von einer Göttin habe, zu hoffen, dass er sich in den Allerwertesten beißt, weil er mich verloren hat, wird man ja wohl noch dürfen!
›Kosel 1 km‹ steht auf dem Straßenschild, das im Licht meiner Scheinwerfer grellgelb aufleuchtet, ich haue den linken Blinker rein und bremse den Mini runter. Kaum abgebogen, jage ich das Auto in den 3., 4. Gang hoch, nur um vor dem Ortsschild erneut auf 50 km/h zu verzögern. Nicht, dass hier irgendjemand nachts um halb zwölf unterwegs wäre, erst recht nicht, wenn es wie aus Eimern schüttet – aber so sterbenslangweilig, wie ich nun einmal bin, kann ich nicht einmal dann eine Geschwindigkeitsübertretung begehen, wenn es keine Sau juckt!
Da vorne ist auch schon das letzte Haus von Kosel. Auf der freien Strecke gebe ich Gas, und augenblicklich schiebt sich jener Anblick vor mein inneres Auge, der Schuld daran trägt, dass ich mitten in dieser komplett verregneten Juninacht auf der Flucht bin: Aleks’ nacktes, im grellen Licht meiner LED-Taschenlampe fahl aufleuchtendes Hinterteil.
›Wie kannst du die mitnehmen, Charly?‹, ertönt sein vorwurfsvolles Tadeln in meinem Kopf. ›Die ist nicht mal ansatzweise zeitgerecht!‹
Fast schaffe ich es, mich über seine Spitzfindigkeit aufzuregen, doch dann sehe ich wieder, wie sein blankgezogener Arsch sich in rhythmischen Bewegungen über dem beneidenswert schlanken Körper meiner besten Freundin Konstanze abrackerte.
Meiner vormals besten Freundin, korrigiere ich mich und trete das Gaspedal noch ein Stück weiter durch. Die liebe Maike hat schlussendlich doch recht behalten: Ich passe einfach nicht in die hanseatisch-kühle Gesellschaft, weder zu Aleks mit seinem Reenactment-Fimmel, dem zu Liebe ich in dem elendig schweren Kettenhemd stecke, dessen Glieder bei jeder Lenkbewegung leise klirren, noch zu Konstanze, die mit ihren Modelmaßen und dem unaufgeregten Stilgefühl viel eher als Mums Tochter durchginge als ich.
Maike.
Einen Moment lang überlege ich, ob ich es wirklich wagen kann, bei ihr angekrochen zu kommen, nachdem ich sie in den letzten Monaten links liegen gelassen habe. Doch ich muss zugeben, ich ziehe nicht wirklich ernsthaft in Erwägung, umzukehren und Mums bis aufs i-Tüpfelchen stilgerecht sanierte Gründerzeitvilla in Borgwedel anzusteuern, in der ich aufgewachsen bin – und erst recht nicht mein Apartment im Schleswiger Wikingturm.
Schließlich besitzt Aleks einen Schlüssel dazu und wenn, wird er mich dort als erstes suchen.
Wie aufs Stichwort klingelt mein Handy, und im Display des Navis leuchten die Worte ›Anruf von: Aleks‹ auf.
»Denkst du, ich bin blöd, du schwanzgesteuerter Hirni?«, schreie ich das grinsende Antlitz seiner online-Visitenkarte an. Ich drücke den Anruf weg und wähle rasch, bevor er erneut durchklingeln kann, Maikes Telefonnummer.
»Hallihallo, hier ist die Maike-Box«, tönt es aus dem Lautsprecher. »Maike kann gerade nicht ans Telefon, drum quatsch deinen Text nach dem Pieps auf meine Speichereinheit!« Maikes Kichern ertönt, dann das angekündigte Piepen, und ich hole Luft.
»Hi, Maike, hier ist Lotte«, sage ich und folge dem Straßenverlauf, den ich blind kenne, so oft, wie ich in den vergangenen zehn Jahren hier langgefahren bin. Erst mit dem Rad, dann mit dem Roller und schließlich mit dem Mini: Immer, wenn die Kacke am Dampfen war, fand ich auf dem Hof von Maikes Eltern im herrlich verschlafenen Ketelsby Unterschlupf. »Ich bin auf dem Weg zu dir. Aleks … Deine Vorhersage ist eingetroffen.« Ich schniefe lautstark, ehe ich weiterspreche. »Der Arsch hat mich betrogen. Ausgerechnet mit Konstanze und ausgerechnet auf dem blödsinnigen Mittsommerfest in diesem blödsinnigen Wikinger-Museum, für das ich mir diese blödsinnige A-plus-Gewandung gekauft habe.«
Das Grellgelb eines Ortseingangsschilds leuchtet in den Kegeln meines Fernlichts auf, und ich bremse ab.
»Ich fahre eben durch Rieseby«, informiere ich Maike. »In einer Viertelstunde bin ich bei dir. Bis dann.« Unter geräuschvollem Hochziehen meiner Nase drücke ich die Auflegen-Taste am Lenkrad und gebe, kaum dass ich das Ortsende erreicht habe, erneut Gas. Ehrlich, ich könnte viel schneller fahren, wenn mein linker Ellenbogen nicht bei jeder Lenkbewegung mit dem Knauf des Schwerts kollidieren würde, das in dem aus originalgetreu grubengegerbtem Leder gefertigten Schwertgehänge steckt. Originalgetreu! Ich schwöre, ich werde dieses Adjektiv ebenso aus meinem aktiven und passiven Wortschatz löschen, wie ich das Schwert und den ganzen übrigen Kram entsorgen werde.
Aber auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an. Klar, ich könnte anhalten und es abnehmen, aber wer wäre schon so blöd, bei diesem Wolkenbruch auszusteigen? Nicht einmal ich!
Erneut klingelt mein Handy, ich schiele aus dem Augenwinkel auf das Display und schnaufe erleichtert auf, als ich ›Anruf von: unbekannt‹ entziffere.
Das muss Maike sein, denn niemand sonst, den ich kenne, telefoniert mit unterdrückter Rufnummer.
Ich drücke auf die Taste zum Annehmen. »Maike?«, rede ich drauflos, ohne auf ihr Melden zu warten. »Ich bin’s, Lotte. Hab dir eben auf die Mailbox gequatscht, aber die hast du bestimmt noch nicht abgehört. Bin gerade auf dem Weg zu dir. Du bist doch zu Hause, oder?«
Keine Antwort. Nur atmosphärisches Rauschen, das ein wenig wie das genervte Räuspern von Aleks klingt, wenn ich wieder einmal einen Bock geschossen habe.
Aber wieso denke ich an ihn? Er ist ja nicht am Apparat. »Maike?«, frage ich abermals, nun etwas unsicher geworden. »Das bist doch du, oder? Nicht wahr?« Ich lausche, doch erneut keine Wortmeldung. »Hab ich dich etwa aus dem Bett geklingelt, Maike? Das täte mir echt leid, aber … Ich brauche dich jetzt, Maike. Ehrlich! Aleks hat mich betrogen, ich hab’ ihn in flagranti erwischt. Alles, was du je über diesen Mega-Arsch gesa…«
»Nur, um das klarzustellen«, dröhnt Aleks’ Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich habe sicherlich einen furchtbaren Fehler gemacht und dich über die Maßen verletzt, liebste Charlie – aber ich bin kein Mega-Arsch!«
Wie, dreimal verkackte Scheiße, kommt Aleks an Maikes Telefon? Ich versuche vergeblich, mir einen Reim daraus zu machen, während sich mein Mundwerk schon selbsttätig in Bewegung setzt. »Bist du doch!«, schnappt es. »Und zwar ein Mega-mega-mega-Arschloch, um genau zu sein!«
»Aber Charlie, hör mi…«
»Und wie oft, du gehirnamputierter Teilzeit-Wikinger«, unterbreche ich ihn, »muss ich dir noch sagen, dass mein Name Charlotte Louise Friederike lautet, für Freunde Lotte, aber niemals, hörst du, niemals Charlie?«
Er seufzt. Übertrieben, wie immer, aber was überrascht mich daran? »Lottchen, Liebes i…«
»Lotte, nicht Lottchen!«, kläre ich ihn mühsam beherrscht auf und blinke links, um von der L27 zur L283 in Richtung Lindau abzubiegen. »Und auch das nur für Freunde.«
»Schätzchen, Liebes, ich bin doch dein Freund«, beharrt er, und ich werde noch wütender, weil er das Aussprechen meines Taufnamens so hinterhältig umgeht. »Auch, wenn ich zugeben muss, dass ich einen furchtbaren Fehler gemacht habe und es kaum wagen darf, auf deine Vergebung zu hoffen. Aber ich liebe dich! Ich werde dich immer lieben, und ich bin mir sicher, sobald du dich etwas abgeregt hast, wirst du das erkennen, mir verzeihen und übernächste Woche an Papas Geburtstag meinen Heiratsantrag annehmen.«
Aha. Daher weht also der Wind. »Meinst du wirklich?«, frage ich mit angestrengt auf Besonnenheit bedachter Stimme.
»Aber natürlich!« Aleks’ Erleichterung ist durch die Freisprecheinrichtung förmlich zu greifen.
»Natürlich?«, schreie ich und zucke selbst zusammen, weil sich meine Stimme überschlägt. »Nein! Natürlich nicht! Ich hasse dich, du verkacktes Arschloch! Dich und deine verfickte … « Meine Augen richten sich auf die regennasse Fahrbahn, die über den Damm zur Lindaunisbrücke führt. Verdammt! Was ist das?
Im Licht meiner Scheinwerfer taucht eine Gestalt auf, taumelt, stolpert, fängt sich.
»Ach du grüne Scheiße!« Ich umklammere das Lenkrad und trete das Bremspedal bis zum Anschlag durch. Was macht der mitten auf der Straße?
Das ABS ruckt und bockt, die Scheibenwischer fahren wie in Zeitlupe über die Frontscheibe, die Gestalt kommt näher. Noch näher.
Scheiße! Ich werde den totfahren!
Millisekunden dehnen sich zu Ewigkeiten. Das Auto verzögert, immer noch bockend, ich hänge im Gurt und das beschissene Schwert drückt gegen meinen linken Hüftknochen. Endlich – es erscheint mir, als sei eine Ewigkeit vergangen, seit ich zu bremsen begonnen habe – kommt der Wagen mit abgewürgtem Motor zum Stehen.
Vorsichtig hebe ich den Blick.
Die Gestalt – ein Mann, das klatschnasse, schulterlange Haar vom Wind zerzaust – steht immer noch.
Gottseidank! Also habe ich ihn doch nicht totgefahren! Ich seufze erleichtert auf – nur um im nächsten Moment Zeuge zu werden, wie er hintenüberkippt.

»Scheiße!«, schreie ich. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Wo ist das Handy?
Ich tauche ab in den Fußraum, schlage mir den Kopf am Lenkrad an und halte es endlich in den Fingern.
»… los, Charlie?«, quäkt Aleks mir ins Ohr.
»Arschloch!«, schimpfe ich. »Geh aus der Leitung!« Ich drücke ihn weg und wähle mit zitternden Fingern die 112.
»Leitstelle Nord, Edelhoff«, meldet sich eine zackige Stimme.
Denk an die fünf W-Fragen, schießt mir durch den Kopf. Wer ruft an, wie viele Personen, welche Verletzungen, was und wo ist es passiert. Ich hole tief Luft. »Charlotte Louise Friederike Sieveroth am Apparat. Hier ist ein Mann. Keine Ahnung, welcher Art er verletzt ist, doch ich glaube, ich habe ihn überfahren. Er ist umgefallen und liegt jetzt auf dem südlichen Damm der Lindaunisbrücke … «

Es kommt mir vor, als seien Stunden vergangen, doch bis zum Eintreffen von Polizei, Rettungswagen, Feuerwehr und Notarzt können nur Minuten verstrichen sein, und die ganze Landstraße ist von zuckenden Blaulichtern erhellt.
Ich habe keine Ahnung, wie ich aus dem Auto herausgekommen bin, aber im Moment knie ich in den Lichtkegeln meiner Scheinwerfer auf der Straße, halte mir mit der Rechten nach wie vor das Handy ans Ohr und presse Zeige- und Mittelfinger der Linken an den Hals des Fremden.
»Laut der Informationen, die ich eben am Computer erhalte«, spricht der Typ von der Notrufzentrale gerade, »müssten die Rettungskräfte inzwischen bei Ihnen eingetroffen sein.«
Ja. Ich nicke, ehe mir einfällt, dass er mich nicht sehen kann. »Ja«, flüstere ich ins Handy und umklammere es noch fester.
»Dann wäre es vielleicht angebracht, dass Sie jetzt auflegen«, schlägt er vor, und ich schüttele den Kopf, denn nur seine beruhigenden Anweisungen können mich davon abhalten, schreiend davonzulaufen.
Obwohl der Herzschlag, den ich spüre, kräftig ist, sich die Brust des Unbekannten in gleichmäßigen Abständen hebt und senkt, und die Haut unter meinen Fingerkuppen Wärme ausstrahlt – irgendetwas stimmt nicht mit diesem Mann.
Gut, ich habe nicht sonderlich viel Erfahrung mit dem lächerlichen Kostüm-Kram von Aleks und seinen Reenactment-Kumpels, aber, was der Kerl hier trägt, ist, um deren Sprache zu zitieren, aber so was von A plus, wie mir noch nie untergekommen ist. Schwert, Dolch, Lederschuhe nach Yorkfund. Und auch die Klamotten: Sowohl Hemd als auch Wams sehen irgendwie zu authentisch nach Wikingerzeit aus, um wirklich echt zu sein. Sie sind geflickt, an den Ärmeln abgestoßen – und blutbespritzt. Über und über mit Blut bespritzt, das den Fremden auch im Gesicht und an den Händen getroffen hat.
»Machen Sie mal Platz!« Ein massiv auftretender Rettungssanitäter zerrt mich hoch und gibt mir einen Schubs zur Seite, während seine Kollegin einen Koffer ablegt und öffnet.
Ich taumele rückwärts und kollidiere mit einem Feuerwehrmann, der gerade einen weiteren Flutlichthalter aufgestellt hat.
»Alles in Ordnung?« Sein Blick streift mich von Kopf bis Fuß und wieder zurück, bleibt auf meinen Händen hängen. »Handy? Hast du etwa noch immer die Leitstelle dran?« Mit entschiedenem Griff nimmt er mir das Telefon ab und fasst mich am Ellenbogen. »Du siehst aus, als ob du einen Schock hättest. He, Moritz!« Er wendet sich an einen zweiten Retter. »Ich kümmer’ mich mal um das Mädchen, die Ärmste musste wohl zusehen, wie dieser Wahnsinnige ihren Freund überfahren hat.«
Obwohl ich mich sträube, schiebt er mich nachdrücklich zu einem der Feuerwehrautos, nötigt mich, auf dem Trittbrett Platz zu nehmen, und legt mir eine Decke um.
Die dampfende Teetasse, die er mir dann in die Hände drückt, bricht meinen Widerstand, denn im Flutlicht, das die Szenerie erhellt, erkenne ich Blutspritzer auf meinen zitternden Fingern. »I-ist er …«, stottere ich und hole Luft, um mich zusammenzureißen. »Ist er schwer verletzt? Können Sie schon was sagen?«
»Warte …« Er lauscht auf das unverständliche Quäken aus dem Funkgerät an seinem Kragen, dann gleitet ein Leuchten über sein Gesicht. »Soweit Dr. Krollmann erkennen kann, sind seine Vitalfunktionen tadellos.« Ein Lächeln auf den Lippen, zwinkert er mir gutmütig zu und zupft an der Decke über meinen Schultern. »Natürlich untersucht sie ihn im RTW erst einmal eingehend auf innere Verletzungen. Aber jetzt mach dir mal keine Sorgen um ihn, er ist bei ihr in den besten Händen.«
»N’Abend.« Ein etwas fülliger Polizist in Uniform schiebt den Feuerwehrmann beiseite und tippt mit dem Zeigefinger an den Schirm seiner Mütze. »Ich weiß, dass Sie wahrscheinlich unter Schock stehen, nach all dem, was Sie ansehen mussten. Aber kann ich Ihnen trotzdem kurz ein paar Fragen stellen?«
Als ich nicke, holt er Kugelschreiber und Notizbuch aus der Jackentasche.
»Die wichtigste Frage ist natürlich die, ob Sie gesehen haben, wohin der Fahrer verschwunden ist«, hebt er an, und ich runzele die Stirn.
Der Fahrer? Von welchem Fahrer spricht er? Ich schaue hilfesuchend zu dem dünnen Polizisten hoch, der neben seinen Kollegen getreten ist.
»… natürlich interessiert es uns auch, wo Sie beide hergekommen sind und wohin Sie mitten in der Nacht wollten«, setzt der Dünne an, und seine Nasenspitze zittert dabei wie die eines Jagdhunds, der Witterung aufnimmt. »Und weshalb Ihr Freund mitten auf der Landstraße gelaufen ist. Hatten Sie eine Panne? Wollten Sie den Fahrer um Hilfe bitten? Wenn ja, wo steht ihr Wagen?«
»Wagen?« Ist er blind, sieht er meinen Mini denn nicht?
»Naja.« Der Dicke lacht und deutet auf mich. »Auch für Freizeit-Wikinger wie Sie ist es zu Fuß schon ein bisschen sehr weit bis zum Museum in Busdorf. Da ist doch dieses Wochenende großes Sonnwend-Fest, oder?« Mit dem Kugelschreiber schiebt er die Mütze ein Stückweit in den Nacken. »Mein Sohn ist auch dort, müssen Sie wissen, schließlich gibt’s nichts Größeres für ihn, als Wickie zu spielen«, setzt er mit einem verschwörerischen Zwinkern hinzu, und ich verstehe gar nichts mehr.
»Paddy? Moritz?« Eine befehlsgewohnte Frauenstimme schallt über die surreale Szenerie. »Kann einer von euch das Mädel herbringen?«
»Na, dann mal los«, sagt der Paddy gerufene Feuerwehrmann. Er packt meinen Arm, zieht mich hoch und bahnt mir einen Weg zwischen den Polizisten hindurch, die uns aufhalten wollen. »Eure Kollegen können die Dame auch später im Krankenhaus befragen. Aber wenn Dr. Krollmann Angehörige dabeihaben will, dann nicht ohne Grund, ja?«
Der Dünne grummelt etwas, tritt zur Seite, und bevor ich richtigstellen kann, dass ich den Fremden nicht kenne, werde ich in den Krankenwagen geschoben.
»Setzen Sie sich dorthin«, weist die schlanke Grauhaarige mich an. Sie deutet auf einen Klappsitz, und gehorsam leiste ich ihren Worten Folge. »Und, los, kommen Sie schon, nehmen Sie seine Hand. Weshalb, glauben Sie, habe ich Sie herrufen lassen?«
Seine Hand? Mühsam kämpfe ich darum, meine Augen von dem durchtrainierten Körper abzuwenden, der splitterfasernackt vor mir liegt. Hand, Lotte, seine Hand! Sie hat von seiner Hand gesprochen und weder von der im genau richtigen Maß muskelbepackten Brust, noch von dem Sixpack, der sich bei jedem Atemzug hebt und senkt – geschweige denn von jenem Körperteil, der scheinbar unschuldig schlafend über die dunkelblonden Locken in seinem Schritt rollt, als der RTW losfährt.
Ein Rascheln lässt mich hochschauen, dann sehe ich nur noch goldene Reflexe und denke für einen Moment, dass ich ohnmächtig werde. Aber es ist nur die Rettungsdecke, die von der Ärztin über den prachtvollen Leib gedeckt wird.
Was sollte ich nochmal? Ach ja, seine Hand! Mutig hebe ich die Meine um zuzufassen, doch dann schrecke ich zurück. Was hat er da? Seltsame, bläulich schimmernde Zeichen auf seinen Fingerrücken. Wenn es Buchstaben wären – was sie eindeutig nicht sind – würde man sie wohl ›Knockles‹ nennen. So viel habe ich bei dem ganzen Reenactment-Gedöns immerhin schon mitgekriegt.
Die Kerls – natürlich abgesehen von Aleks, denn was würde sein Vater sagen? – sind meistens mehr oder weniger ganzkörpertätowiert.
Auch der Kerl vor mir. Soweit ich einen Blick auf den Unterarm erhaschen kann, ziehen sich, beginnend mit den Handgelenken, blauschwarze Schnörkel hinauf.
Ein Hüsteln schreckt mich aus meiner Erstarrung hoch, ich schnaufe, greife nach seinen Fingern und presse sie vorsichtig.
»Na also, geht doch«, bemerkt die Ärztin mit sarkastischem Unterton. »Lass mich raten, ihr beiden seid noch nicht besonders lange zusammen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, zwinkert sie mir zu, nachdem sie irgendeine Anzeige gecheckt hat. »Aber ganz im Vertrauen: Du scheinst nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben. Hast du gehört, wie sein Herzschlag sich beruhigt hat, als du ihn angefasst hast?«
Gehört? Meint sie das Piepen des Monitors? Ich schaue von dem blinkenden Gerät zu ihr, und sie nickt. »W-was«, bringe ich stotternd heraus und räuspere mich, um erneut anzusetzen. »Wissen Sie schon, was mit ihm ist?«
»Nun ja, ich habe hier ja nur meine Bordmittel und gehe nach dem Ausschlussprinzip vor«, sagt sie und verstellt etwas am Infusionsschlauch, der in die rechte Armbeuge des Prachtkerls vor mir führt. »Das heißt, ich weiß, was er nicht hat: keine offenen Verletzungen, keine sichtbaren Prellungen und, soweit ich unter Einsatz meines berüchtigten Röntgenblicks feststellen kann, auch keine gebrochenen Gliedmaßen.«
Der letzte Punkt ihrer Aufzählung soll wohl als Eisbrecher wirken, was er nicht wirklich tut.
Dennoch zeige ich meinen guten Willen und versuche mich an einem hochgezogenen Mundwinkel. 
»Nun ja.« Sie scheint zu merken, dass ihre Art von Humor bei mir nicht gut ankommt, und nimmt Klemmbrett und Kuli zur Hand. »Dann wollen wir uns mal dem bürokratischen Kram zuwenden. Ich fange oben an: Name, Vorname, Geburtsdatum?«
»Sieveroth«, sage ich, und ihr Stift flitzt übers Papier. »Charlotte Louise Friederike. Geboren a…«
»Nee!« Sie lacht, reißt das Papier runter und zerknüllt es. »Nicht von dir – von ihm!«
»Von ihm?« In dem Moment, da ich ihre Worte nachäffe, wird mir bewusst, dass ich ein ziemlich bescheuertes Bild abgeben muss. Wie eine von diesen Tussis, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, weil sie ohne zu zögern mit einem Typen ins Bett hüpfen – und keine Millisekunde darauf verschwenden würden, herauszubekommen, wie er heißt.
»Sonst ist keiner da«, ruft Dr. Krollmann sich in mein Gedächtnis zurück. »Oder heißt das etwa … Du weißt das gar nicht?«
Ich schüttele den Kopf. Endlich jemand, der mich versteht!
»O-oh«, macht sie und rollt die Augen. »Du weißt schon, was ich jetzt sagen muss?«
Nein. Was? Ich runzele die Stirn.
»Nun ja, ich bin zwar nicht deine Mutter«, fängt sie an. »Aber vom Alter her könnte es hinkommen. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, dich darauf hinzuweisen, dass es keine gute Idee ist, mit einem Typen in die Kiste zu springen, dessen Namen man nicht kennt.«
Fein, denke ich und ziehe eine Grimasse. Wieso konnte Frau Dr. Krollmann vor 23 Jahren nicht zur Stelle sein, als Mum genau das gemacht hat?
»Ich meine …« Sie wirft einen Blick aus dem Augenwinkel auf den Bewusstlosen. »Nicht, dass ich dir das nicht nachfühlen könnte. Auch mein angejahrtes Herz ist nicht aus Stein, und ich muss zugeben, er sieht schon verdammt lecker aus.«
Lecker? Jetzt, da der Körper des Fremden abgedeckt ist, komme ich endlich dazu, mir sein Gesicht anzusehen. Auf der Straße war mir nur die so verblüffend echt aussehende Ausstattung aufgefallen, vorhin, als wir losfuhren, dagegen …
»… eigentlich üblich?«, platzt Dr. Krollmanns Frage in meine Grübelei. »Hatte noch nicht allzu oft das Vergnügen, einen Möchtegern-Wikinger auszupacken, aber die anderen hatten alle eine Unterhose an. Ist das dann Triple-A-plus, darauf zu verzichten?« Sie grinst wissend. Anscheinend sind alle um mich herum Experten, was Reenactment angeht.
Ich schlucke, als ich an den Anblick seiner Nacktheit denke. Reden wir nicht darüber! Mit größter Konzentration studiere ich stattdessen seine Züge.
Das schulterlange Haar ist zu blonden Strähnen getrocknet. Sie ringeln sich bis auf breite Schultern herab, die unter der Goldfolie herausschauen. Spärliche, ebenso blonde Bartstoppeln überziehen einen kantigen Kiefer, der im Widerspruch zu ausdrucksstarken Lippen zu stehen scheint.
Ich reiße meinen Blick von der Fülle der Unterlippe los, verdränge den absurden Wunsch zu erforschen, wie sie sich bei einem Kuss anfühlen könnte, und betrachte stattdessen die Nase des Ohnmächtigen.
Abgesehen davon, dass Blutkrusten rund um die Nasenlöcher kleben und herabgetropfte Rinnsale sich über den Mund bis zu seinem Siegertypen-Kinn ziehen, ist sein Riechorgan absolut perfekt geraten – gerade weil es keine Makellosigkeit besitzt. Ein winziger Höcker stört die gerade Linie des Nasenrückens, der ebenso ein wenig zu breit geraten ist, um perfekt zu sein, wie die ein bisschen zu fleischigen Nasenflügel.
Ja, die Ärztin hat recht, er sieht verdammt lecker aus.
Ich gehe jede Wette ein, dass, um seiner Vollkommenheit ein i-Tüpfelchen aufzusetzen, die Farbe seiner Augen von einem tiefen Blau sein muss. Kotz. Würg. Voller Inbrunst seufze ich, denn wie kommt eine derart patent auftretende Frau wie Dr. Krollmann auf die Schnapsidee, ein solcher Halbgott könnte etwas mit mir am Laufen haben?
»… sind wir schon«, reißt mich ihre Stimme aus meiner Tiefsinnigkeit, und im gleichen Moment werden die hinteren Türen des Rettungswagens aufgerissen.    
»Sind … wo?«, stammele ich und gehe in Deckung, weil die Trage aus dem Auto gewuchtet wird.
»Schlei-Klinikum, Schleswig«, erklärt die Ärztin im Weglaufen. »Er kommt in den Schockraum. Ich übergebe ihn jetzt an die Kollegen, aber es wäre hilfreich, wenn du dich bereithalten könntest, um noch einmal Händchen zu halten.« Sie grinst. »Zu rein therapeutischen Zwecken natürlich.«
»Alles klar.« Ich nicke und will mich gerade auf eine Bank im kahlen, von fahl leuchtenden Neonröhren erhellten Flur setzen, als sie innehält.
»Nur nebenbei gesagt«, setzt sie an. »Das wäre jetzt die passende Gelegenheit, um draußen ein paar Telefonate zu führen. Du weißt ja, Handys sind hier drinnen nicht erlaubt.«
»Ja, klar, danke!« Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte und will mir gerade in die Jackentasche fassen, wo ich mein Handy immer aufbewahre, als ich feststelle, dass ich die ja gar nicht trage, sondern immer noch in der bekloppten Wikinger-Kriegerinnen-Ausrüstung stecke, die Aleks mir aufgenötigt hat. Scheiße! Wo ist mein Telefon? Ich schließe die Augen und rekapituliere: Beim Bremsen war es in den Fußraum gerutscht, ich tauchte danach, holte es hoch und drückte Aleks weg. Dann rief ich die Rettung an und stieg aus, um dem Verletzten zu helfen. Währenddessen hielt ich es mir ans Ohr bis …
… der Feuerwehrmann es mir aus den Händen nahm. Ob der es noch hat? Oh verdammt, was wird Maike jetzt denken? Sie hat die Nachricht auf ihrer Mailbox bestimmt längst abgehört und jetzt kann sie mich nicht erreichen! Oder – noch schlimmer – was, wenn sie mich angerufen hat und da ein Feuerwehrmann oder gar die Polizei ranging?
In mir drinnen schaltet es auf Panikmodus um. Anrufen. Maike Bescheid sagen. Verdammt, wo krieg ich jetzt ein Telefon her? Ich irre durch die Flure, will gerade die griesgrämig dreinschauende Nachtwache am Empfang um Rat fragen, als mir eine heftig winkende Person entgegenkommt.
»Hej! Charlie! Da bist du!«
Pappa? Was macht der selbsternannte Ausstattungs-Papst von Aleks’ Reenactment-Freunden hier? Gleichzeitig sträubt sich mein nicht vorhandenes Nackenfell wegen des verhassten Spitznamens, und ich überlege für einen Moment, ob ich vor dem Typen davonlaufen soll. Allerdings trägt der Fakt, dass er ein Handy in der Linken schwenkt, das dem Meinen verflixt ähnelt, schlagartig zu meinem Umdenken bei. »Charlotte«, korrigiere ich ihn, lächele und denke krampfhaft darüber nach, wie sein richtiger Name lautet. »Bitte, nenn mich Charlotte. Danke für das Telefon, aber … woher hast du es und wie kommst du überhaupt hierher?«
»Oh, das ist eine längere Geschichte, Charlotte.« Pappa betont meinen Namen ein bisschen zu sehr. »Wenn ich Aleks’ Stammeln richtig verstanden habe, bekam er bei seinem Versuch, dich zu erreichen, nachdem du ihn aus der Leitung geworfen hattest, irgendwann die Polizei an den Apparat. Die wollten, dass er dein Auto irgendwo in der Pampa abholt. Und, nun ja, er kann ja keine zwei Wagen gleichzeitig fahren, und da es gerade keine so gute Idee zu sein scheint, dass er, geschweige denn deine … äh, seine …« Er gerät selbst ins Stammeln. »… diese Dings dir über den Weg läuft, habe ich mich angeboten, es herzufahren. Schließlich wohne ich nicht weit von hier.«
»Oh.« Ich nehme auch den dargereichten Autoschlüssel aus seiner Hand. Wieso fällt mir nichts ein, was ich sagen könnte? »Das ist … nett.« Und gleichzeitig der Super-GAU schlechthin, denn wenn selbst dieser Reenactment-Nerd Pappa das von mir, Aleks und Konstanze mitbekommen hat, dann macht die Story gerade die Runde unter allen Schleswigern zwischen 15 und 95 Jahren.
»… eine wilde Geschichte«, tropfen Pappas Worte in bester Plauderlaune an mein Ohr. »Stimmt es wirklich, dass du dich gleich mit einem der osteuropäischen Profi-Kämpfer trösten wolltest?«
»Mit wem?« Ich bleibe stehen und lehne mich an die Wand, denn diese Information schlägt gerade dem Fass den Boden aus.
»Nun ja, zumindest hat das der alte Petersen gemeint.« Mit dem Versuch, sich zu erklären, stiftet Pappa nur noch mehr Verwirrung. »Du weißt schon. Polizeiobermeister Petersen? Der Vater von Pete?«
Ich nicke, damit Pappa aufhört, mich noch mehr durcheinanderzubringen. »Was hat er gemeint?«
»Dass du wahrscheinlich zusammen mit dem Kerl in Busdorf losgefahren bist«, sagt Pappa. »Denn deine etwas wirre Behauptung, du hättest ihn angefahren, konnten sie wohl anhand der nichtvorhandenen Spuren an deinem Auto eindeutig als Übertreibung einstufen.«
»Das stimmt«, bestätige ich voller Erleichterung. »Ich hab’ doch gewusst, dass ich ihn nicht touchiert habe. Aber mitgenommen?« Entschieden schüttele ich den Kopf. »Nein! Ich wollte zu Maike, mich ausheulen. Von euch Kerls hab’ ich aber so was von die Nase voll!«
Pappa nickt Zustimmung heuchelnd, und ich habe das Gefühl, dieser Nerd wächst wahrhaftig ein bisschen, weil ich ihn in einem Atemzug mit Typen vom Kaliber eines Aleks’ verglichen habe.
»Apropos Maike …« Ich zeige auf das Handy. »Wenn du mich entschuldigst, ich sollte sie endlich anru…«
»Charlotte Louise Friederike?«, schallt in diesem Moment eine Lautsprecherstimme über den Flur. »Ist hier jemand namens Charlotte Louise Friederike? Sie sollen dringend in den Schockraum kommen. Ich wiederhole: dringend! Charlotte Louise …«
»Ach du grüne Scheiße«, rutscht mir heraus, und ich schlucke. »Es wird ihm doch nicht schlechter gehen?«
»Soll ich mitkommen?«, fragt Pappa, und dankbar nicke ich. Auch wenn er ein schmalbrüstiger Nerd ist, der garantiert umfällt, wenn er einen Moppel wie mich auffangen will – die Aussicht, jemanden an der Seite zu haben, erfüllt mich mit Zuversicht.
»Charlotte Louise Friederike Sieveroth?« Ein ernst dreinblickender Arzt empfängt mich unter der Tür, auf der in grellroten Lettern ›Schockraum‹ steht. »Sind Sie das? Wir würden ihren Freund jetzt in ein Krankenzimmer bringen. Sie können ihn gleich begleiten, aber zunächst hat Frau Ibbeken von der Verwaltung ein paar Fragen wegen seiner Versicherung.«
»Er ist nicht mei…«
»Ist er schwer verle…?«, plappert Pappa dazwischen, und ich ächze unterdrückt.
Der Arzt streicht sich eine graumelierte Strähne aus der Stirn, während er seinen Blick von mir zu Pappa und zurück gleiten lässt. »Kein spezieller Freund also, sondern ein eher allgemeiner Freund?«, schlussfolgert er und runzelt die Stirn. »Da muss ich Dr. Krollmann missverstanden haben.« 
»Nicht Sie, sondern Dr. Krollmann«, sage ich mit so viel Würde wie möglich. »Sie hat einiges missverstanden.«
»Nun gut, aber wenn Sie nicht die Lebensgefährtin meines Patien…«
»Dr. Riefflin!« Eine Stimme aus den Tiefen des Schockraums übertönt das hektische Piepsen der Überwachungsgeräte und unterbricht den geschmeidigen Vortrag. »Schnell! Wir haben hier einen akuten Blutdruckabfall, kombiniert mit Herzkammerflimmern und schwergängiger Atmung!«
»Wieso zum Teufel …?« Der Arzt glättet mit dem Finger vergebens die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen. »Sie …« Er deutet auf mich. »… kommen mit, und Sie«, fügt er mit einem Fingerzeig auf Pappa an. »Sie warten hier. Wenn stimmt, was Dr. Krollmann sagte …«
*
Einige Minuten später finde ich mich in einem Krankenzimmer wieder.
Dr. Riefflin selbst hat mir einen Stuhl neben das Bett von ›Max Mustermann‹ gestellt, wie Ärzte und Pfleger den Unbekannten jetzt nennen, damit ich ihm die Hand halten kann.
Denn sobald ich sie loslasse, steigern sich die Monitore in ein infernalisches Kreischen, die Sauerstoffsättigung in seinem Blut – kaum zu fassen, was für Begriffe ich bereits aufgeschnappt habe – sinkt ins Bodenlose, und ich schiebe heftigste Panik, dass ich ihn doch noch umbringe. Wenn nicht mit dem Auto, dann jetzt durch unterlassene Hilfeleistung.
Das zumindest hat Dr. Riefflin höchstpersönlich behauptet, assistiert vom eifrigen Nicken Pappas, nachdem er dem in Aussicht gestellt hatte, eine Expertise über die Kleider zu benötigen. Als ob er das bräuchte, um die Identität festzustellen …
»… auch nicht, was mit ihm ist«, sagt der Arzt gerade zu einer der Schwestern, die sich die Türklinke in die Hand drücken.
Meine Güte, hier geht es ja zu wie im Taubenschlag! Ich meine, gut, dass der Kerl, dem ich Händchen halte, selbst im albernen blassblau geblümten OP-Hemdchen zum Anbeißen aussieht, hatte ich schon festgestellt. Aber muss man deshalb gleich Sightseeing veranstalten?
»Wir haben ihn komplett gecheckt«, spricht Dr. Riefflin weiter. »Er ist einfach nur ohnmächtig. Aber natürlich bleibt die Frage, wieso er nicht zu sich kommt.«
»Und woher das ganze Blut stammt … «
Huch, wer ist das jetzt? Der Stimme nach eindeutig ein Mann. Ich tippe im Geiste schon auf einen schwulen Pfleger, der sich in den Reigen der Spannerinnen einreiht, als ich aus dem Augenwinkel den navyblauen Stoff einer Polizeiuniform erspähe.
»… selbst seine Bekleidung ist über und über bespritzt«, sagt der dünne Polizist, der mich vorhin auf der Landstraße schon so nachdrücklich befragen wollte.
»Wenn ich mal kurz was dazu sagen dürfte?« Pappa fackelt nicht lange, und nimmt dem Wachtmeister den Schuh aus der Hand. »Ich bin nämlich Experte, müssen Sie wissen.«

 

Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Ardy K. Myrne

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Schon ist wieder Leseproben-Zeit bei mir und ich bekam noch eine Leseprobe von der lieben Ardy K. Myrne.
 Dertraurige Gott“ von Ardy K. Myrne
Klappentext:
Der Exo-Biologe Luvnar wird vom Tiefenraum-Institut zu einer Kundschafter-Mission für einen unterentwickelten Planeten ausgewählt, um diesen für die Kolonialisierung zu prüfen. Was als leichter Auftrag beginnt, gewinnt an bitterem Ernst, als er feststellen muss, dass es auf dem Planeten neben einer einfachen Zivilisation noch ein eingeschlepptes Untier gibt. Auf seiner Suche nach dem Tier rettet er einem Mädchen das Leben – und lernt, dass es noch andere Dinge gibt, als seine kalten Befehle.
LESEPROBE
»Zugriff verweigert. Sie besitzen für diese Funktionen keine ausreichende Einstufung des Sicherheitsprotokolls. Zugriff verweigert … Zugriff verweigert.«
Luvnar öffnete die Augen und starrte in eine milchig trübe Welt. Seine Wange war auf dem Medi-Panel ganz taub geworden. Ebenso erging es seinen Händen, die in der sitzenden Position, die er seit Stunden eingenommen hatte, zwischen seinem Schoß und seinen Rippen eingeklemmt waren. Mühsam richtete er seinen Kopf auf, und der Schleier rutschte über sein Gesicht. Es war die Thermodecke gewesen, mit der er Igin zugedeckt hatte. Sein Rücken schmerzte, als er sich aufrichtete. So wie er sich fühlte, hatte er wieder einen ganzen Tag verschlafen. Der Schreck darüber setzte Adrenalin in seinem steifen Körper frei. Was hatte das Mädchen gemacht, während er weggetreten war?
»Igin?«
Hastig sah er sich um. Um ihn herum waren die Ablageflächen mit Wurzelbündeln und Blütenblättern bedeckt. Selbst in seinem Haar hafteten kleine blaue Blüten, die nun bei jedem Schritt zu Boden sanken. Er sah im Cockpit nach seinem Gast, denn in der Arbeitssektion und im Schlafbereich war sie nicht. Schließlich stolperte er in den Laderaum und fand Igin am Rampenterminal. Sie stand aufrecht, den Fuß noch im UV-Schuh, wie er erleichtert bemerkte. Sie trug eines der Nachtkleider, die er im Fundus der medizinischen Ausrüstung entdeckt und als Ersatz für ihr eigenes hingelegt hatte. Der leicht silbrig glänzende Stoff umschmeichelte ihre kurvige Figur. Sie drückte auf die blau und rot leuchtenden Tasten des Eingabefeldes und kicherte, sobald der Bordcomputer mit: »Zugriff verweigert«, reagierte.
»Sugri vaweite …«, wiederholte sie. »Du hast ein seltsames Haus.«
Luvnar bedankte sich innerlich bei seinem Drillmeister für das einprägende Training in Sachen Bordsicherheit. Hätte er die Panels nicht gesichert, hätte Igin sie beide bestimmt schon umgebracht.
»Ja, es ist wohl ein seltsames Haus für dich«, murmelte er. »Stranga domo.«
»Es hat Flossen und Lichter, die sprechen.«
Er lächelte verlegen. Igins Augen blickten sich neugierig um. Sie zeigte keine Scheu, keine Berührungsängste. Vor allem schien sie seine Absichten erkannt zu haben, denn sie war nicht davongelaufen.
»Geht es dir besser?«, fragte er und zeigte auf ihren Fuß. »Schmerzt der Fuß? Vundis la piedon?«
Igin schüttelte den Kopf. »Gute Medizin.« Sie legte die Hände über ihre Brust und verbeugte sich leicht. »Danke.«
»Kun plesuro.«
»Du sprichst seltsam«, kicherte Igin wieder. »Du bist nicht von hier.«
Lächelnd schüttelte Luvnar den Kopf.
»Ich habe jemanden wie dich noch nie gesehen. Sicher bist du ein Ahne.«
Wieder ein Begriff, den sein Übersetzungsprogramm nicht richtig einzuordnen wusste.
»Prapato?«
Igin lächelte und zeigte nach oben. »Du bist blass wie die Quelle und der Mond. Wie die Sterne. Wie die Ahnen.«
Sein Herz überschlug sich. Wusste sie, dass ihr Volk einst von Kolonisten einer fremden Welt abstammte? Wie konnte sich das Wissen erhalten? Nichts hatte bei seinen Scans darauf hingedeutet, dass etwas vom technischen Fortschritt der einstigen Zivilisation erhalten geblieben war!
Er erinnerte sich, dass ihm seine Mutter, Lellin, abends immer wieder Geschichten von den Ahnen der Panu erzählt hatte, vom Volk der Reisenden, den Ersten Menschen. Anders als hier hatte bei den Panu nicht nur das Wissen um ihre fernen Wurzeln überdauert. Auch der Fortschritt und die Technik waren überliefertes und geschätztes Gut.
»Parenco de la steloi …«, murmelte er. »Ein Verwandter von den Sternen.«
Wieder verbeugte sich Igin leicht.
»Und was haben die Blüten und die Wurzeln zu bedeuten?«, fragte er das Mädchen und besann sich, dass sie ihn nicht verstehen konnte. »Kiai esta la floroi kaj radikoi?«
»Lebensgaben für die Götter«, antwortete sie freundlich. »Das Leben ist heilig, aber nichts lebt hier, nur das Licht hat eine Stimme. Dein Haus braucht Leben.«
Luvnar strich sich durch das Haar und zog eine blaue Blüte heraus.
Igin trat auf ihn zu und nahm sie ihm sanft aus der Hand. Die flüchtige Berührung ihrer warmen Haut elektrisierte ihn. Es schien ihm eine Ewigkeit her, dass ihm jemand so nahe gekommen war. Igins Transport zählte er nicht dazu.
»Du warst … kleiner Tod?«, erklärte sie. »Du brauchst auch Leben.«
»Ich habe geschlafen. Mi dormis.«
Sie schüttelte den Kopf. »Kein Mensch schläft so lange. Ich war in Sorge. Aber du bist … Geist? Ich bringe dir also Göttergabe. Nun bist du wach.«
»Ich bin kein Geist. Mi ne esta fantomo.«
Igin lachte. »Nein. Kein Gespenst … Schutzgeist? Du kommst von den Ahnen, vom Fluss und dem Berg. Beschützt die Ogoli.«
»Ogoli?«
Igin zeigte auf ihre Brust. »Ogoli. Mein Volk. Wir sind die Waldhüter auf Taila Pontus.«
»Taila Pontus?« Luvnar fühlte sich wie ein unbeholfener Schuljunge.
Igin breitete die Arme aus. »Diese Welt.«
Luvnar musste zugeben, dass Taila Pontus eine viel bessere Bezeichnung für diesen Planeten war als GG-170. Er nickte Igin zu.

Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Annabelle Benn


Ich liebe ja Leseproben und freue mich wahnsinnig, dass ich euch so schnell schon von noch einer lieben Autorin eine hier einstellen darf. 
Inhalt: Für die Liebe geht er bis ans Ende der Welt – und noch weiter.

Eigentlich hat Rick, Sohn eines irischen Multimillionärs, alles, wovon andere nur träumen: Ein fantastisches Aussehen, einen Haufen Geld und ein Haus voller Freunde.
Doch das genügt ihm nicht. Denn dass er als Versager und Taugenichts verschrien ist, dass ihn die Frauen nur wegen seines einflussreichen Vaters begehren, dass er sich nach einer erfüllenden Beschäftigung und einer harmonischen Beziehung sehnt – das ist die dunkle Seite der Medaille.


Deswegen will er mehr! Mehr als Geld und alles, was er hat. Er will einen Beruf und Liebe – und ausgerechnet Ciara.

Ciara hat nichts, was Rick hat. Sie ist mausgrau, bettelarm und teilt sich kein Haus, sondern eine schäbige Zwei-Zimmer-Wohnung mit drei Frauen, von denen sie wenig mehr als die Vornamen weiß. Dafür hat sie eine wunderbare Stelle als Konditorin und ein klares Ziel: Auswandern nach Australien.

Während Rick also sich selbst sucht, findet er Ciara und – verliert sie wieder.
Aber vielleicht nicht für immer? Und was sucht und findet seine Herzdame?
Leseprobe

1 Ciara

Leise vor sich hin summend legte Ciara vorsichtig den kalten Mürbteig in die Springform, deckte ihn mit Backpapier ab und beschwerte dieses mit getrockneten Bohnen, um zu vermeiden, dass er aufging. Dann schob sie die Form in den vorgeheizten Backofen. Bei exakt 180° Celsius musste der Teig nun elf Minuten backen.
Zufrieden richtete sie sich auf und blies sich ein paar Härchen, die für den Pferdeschwanz zu kurz waren, aus der Stirn. Ihre Hände waren voll Mehl und an ihren Fingern klebte Teig. Mit dem Handrücken drückte sie den Wasserhahn nach oben und wusch sich die Hände. Der kleine, schlecht beleuchtete Raum, in dem sie sich befand, war natürlich die Küche. Dennoch benutzten sie und ihre drei Mitbewohnerinnen ihn auch als Waschküche, Arbeitsraum sowie als Ess- und Wohnzimmer. Ihr Blick ging zu der alten, gelben Plastikuhr, die zwischen einem überquellenden Pinnbrett und dem glänzenden Bild einer sizilianischen Landschaft hing.
Siedend heiß durchfuhr es sie: Schon sieben Uhr! In zwanzig Minuten musste sie sich auf den Weg zur Arbeit machen! Allein die zweite Backzeit betrug aber schon zwölf Minuten, und in den zehn Minuten, die ihr von der ersten blieben, musste sie die Lemon Curd anrühren und das Baiser aufschlagen! Gut, auf das Letzte konnte man – aber nicht unbedingt sie – zur alleräußersten Not verzichten, denn was war ein Lemon Meringue Pie ohne die Meringue, den Zuckerschaum? Wie hatte sie nur so trödeln können? Jetzt war alles umsonst!
Dann jedoch fiel ihr beinahe hörbar ein Stein vom Herzen, denn sie erinnerte sich, dass die Uhr gestern Abend schon sehr lange die gleiche Zeit, nämlich drei Uhr, angezeigt hatte und dass die Stunden im Schneckentempo vergingen. Die Batterie kroch langsam, aber sicher auf ihr Ende zu, was nur bedeuten konnte, dass ihr Zeitplan nicht aus den Fugen geraten war.
Flink trocknete sie sich die Hände ab und drückte eine der gummierten Tasten ihres Handys, das nicht einmal ein Smartphone war, und sah, dass es in der Tat erst zwanzig nach sechs war. Doch auf die Erleichterung folgte der nächste Schrecken: Unbarmherzig und wie immer zu spät fiel ihr der knallrote Spiralblock ein, der an einem Geschenkband an der Pinnwand baumelte. Warum nur dachte sie nie rechtzeitig daran? Sie kannte die Antwort: Weil es ihr widerstrebte und weil es ungerecht war. Sie ging lange vor den anderen ins Bett, schaute nie fern und hatte weder ein Smartphone noch einen teuren Computer, der die ganze Zeit am Stromnetz hing und lud. Deswegen war es schlichtweg gemein, dass sie, als die zuletzt Zugezogene, ihre frühmorgendlichen Backzeiten auf die Minute genau dort eintragen musste. Nicht nur den Ofen, sondern auch das Licht, und wäre sie so rücksichtslos gewesen, beim Backen Musik hören zu wollen, hätte auch das Radio mit auf die Liste gehört.
Nur von den endlosen Kartons mit Tiefkühlpizzen, gefrorenem Shepherd’s Pie, Makkaroni ’n’ Cheese und anderen Fertiggerichten, die im Backofen oder in der Steinzeit-Mikrowelle aufheizten, war nie die Rede. Das war wirklich nicht fair, noch dazu, weil Ciara Selma, Trini und Leona immer etwas von ihren Kreationen anbot. Es war ja nicht ihre Schuld, dass Trini mit ihrer fast 1,80 m Körperlänge und einer Kindergröße bestimmt essgestört war, dass Leona wohl aus Prinzip nichts von ihr annahm und dass Selma – ach, warum auch immer an allem etwas auszusetzen hatte. Nicht ärgern, redete sie sich gut zu und überlegte, wann sie wohl das Licht eingeschaltet hatte. Reichten 30 Minuten oder sollte sie auf Nummer Sicher gehen und 35 eintragen? Sie entschied sich für Letzteres, denn auch wenn sie jeden Cent dreimal umdrehen musste, so wollte sie ihre Mitbewohnerinnen doch nicht übervorteilen. Und was waren schon fünf Minuten im Leben einer Energiesparlampe!
Folglich trug sie mit ihrer fein säuberlichen, aber weit geschwungenen Handschrift „03.10.2017, 06:04 bis … Licht“ ein, denn um Punkt sechs hatte ihr Wecker geklingelt und zwei Minuten hatte sie zum Zähneputzen und zwei für den Rest der Dinge im Bad gebraucht, und „06:10 bis … – Ofen“.
Ciara wusste, dass das Backen vor der Arbeit ein teures Vergnügen war, was nicht nur am Strom, sondern auch daran lag, dass sie nur die besten Zutaten verwendete. Aber wenn sie minderwertigere Zutaten nehmen würde, könnte sie das Backen ja auch gleich bleiben lassen. Dann hätte sie zwar mehr Geld, aber nichts mehr vom Leben. Backen war in den letzten Wochen und Monaten zu ihrem Lebensinhalt geworden, doch so oft sich diese Erkenntnis auch in ihr Bewusstsein drängte, so entschlossen schob sie sie jedes Mal wieder weg. Sie war der Freiheit und des Lebens wegen nach Dublin gekommen und nicht für einen Spiralblock und ein halbes Zimmer. Aber gut, wer hätte gedacht, dass … Nein. Es war besser, hier als Zuhause zu sein, ermahnte sie sich und drängte aufsteigende Tränen zurück. Sie war, wie sie selbst fand, ein Meister im Verdrängen geworden. Aber das Backen half auch gegen Heimweh! Sie buk, wenn es ihr gut ging, und sie buk, wenn es ihr schlecht ging. Sie buk, weil sie einfach alles daran genoss: das Auswählen der Zutaten, das Zubereiten des Teiges und der Füllung, das Kneten und Formen, den Duft beim Backen, das Verzieren und Anrichten auf einem Teller und natürlich den Genuss beim Essen.
Besonders die allmählich immer kälter und dunkler werdende Jahreszeit wäre ohne Backen unerträglich. Hier, im Osten der Insel, schien die Sonne kürzer, dessen war sie sich sicher, auch wenn viele Leute etwas anderes behaupteten. In ihrem Heimatdorf in der Nähe von Cork, im Süden Irlands, wo sie aufgewachsen und von wo sie im Juli weggezogen war, war der Himmel auch im Winter klar. Doch in Dublin hing er trüb bis auf den Asphalt, und es dauerte fast immer bis Mittag, bis sich der Nebel auflöste. All das trug dazu bei, dass Ciara sich immer unwohler fühlte, je weiter sich der Sommer entfernte. Zudem war die Kälte zu Hause anders. Egal, wie lange man dort spazieren ging, nie kroch sie einem bis in die Knochen.
Als sie nun den Stift auf das vollgestellte Fensterbrett zurücklegte und auf den schmalen Streifen zwischen Gehweg und Straße hinunter schaute, fiel ihr Blick auf die fleckige Matratze, das Dreirad mit zwei Rädern und eine Elektroherdplatte, die heute Nacht dazugekommen sein musste. Da das andere Gerümpel schon bei ihrem Einzug da gewesen war, war zu erwarten, dass sie sich auch an den Anblick der Platte gewöhnen würde. Zu Hause, auf dem Land, war so etwas unvorstellbar. Dort räumte jeder immer auf. Aber dort kannte auch jeder jeden und hier kannte keiner keinen. Ciara vermutete, dass das der große Unterschied war. Deswegen half auch niemand niemandem, wenn irgendwer irgendwas brauchte.
Ciara zerließ die Butter für die fruchtig-frische Lemon Curd in einem Topf.
Bei solchen Gedanken sehnte sie sich zurück. Nicht nur nach der geräumigen, voll ausgestatteten Küche im Parterre des alten Bauernhofs, sondern auch nach ihrer Familie. Sogar nach ihrem Vater, der sich gerade an den schweren Holztisch setzte und ihrer Mutter dabei zusah, wie sie die Frühstückswürstchen, Pilze, Tomaten und Eier in der schwarzen Bratpfanne wendete. Nach und nach kämen ihre drei noch unverheirateten Brüder, die alle noch zu Hause wohnten, in die Küche gepoltert und setzten sich mit einem „Guten Morgen!“ an den Tisch. Sie würden über die anstehende Arbeit reden, bis das Essen serviert wurde, und dann würden sie nichts mehr sagen, bis sie den letzten Rest Sauce mit dem selbst gebackenen Toastbrot aufgewischt hätten. Und dann, wirklich erst dann, wenn sie aufgestanden und zur Arbeit aufs Feld oder in den Stall gegangen waren, würde ihre Mutter sich zu ihrem Frühstück an den Tisch setzen. Das war so gewesen, seitdem Ciara denken konnte, und würde immer so bleiben.
Mit einem bitteren Grummeln schüttelte Ciara den Kopf und verrührte den Zitronensaft, das Citroback (unbehandelte Zitronen waren einfach wirklich viel zu teuer) und den Zucker mit der Butter. Sie schlug die Eier auf, verquirlte sie, passierte sie durch ein feines Sieb und rührte nun die goldgelbe Masse so lange, bis sie andickte, ohne anzubrennen, denn dann wäre die Creme ruiniert. Sie trennte die restlichen Eier, um das Eiweiß mit Puderzucker zu einem Baiser zu verarbeiten.
Leise legte sie die Küchengeräte, die sie nicht mehr benötigte, in die Spüle. Dabei schüttelte sie erneut den Kopf und zuckte die Schultern. Noch war das Leben hart, aber eines Tages würde es federleicht werden, daran glaubte sie fest. Jeden Morgen und Abend betete sie zu Gott für eine Wendung zum Besseren, und dass sie aus Cork weggezogen und in derart ärmlichen Verhältnissen gelandet war, konnte nur eine Zwischenstation sein. Eine auf ihrem Weg nach Australien, dem Sehnsuchtsort, Ziel aller Hoffnungen, Wünsche und Träume. Sobald sie genügend Geld gespart hätte, würde sie ein Ticket kaufen. Nur hin, nicht zurück. Dann würde sie auf dem roten Kontinent, im Land der ewigen Sonne (denn das war es in ihrer Vorstellung) glücklich werden und es für immer bleiben. Weit weg von ihrem Vater und sämtlichen anderen Männern, die allesamt nicht wussten, was Liebe war. Nicht, dass sie es besonders gut gewusst hätte, denn viele Gelegenheiten zum Kennenlernen hatte sie mit ihren zwanzig Jahren noch nicht gehabt. Nur wusste sie, dass das, was Niall und Brian mit ihr getan hatte, nicht der gängigen Vorstellung von Liebe entsprach.
Ja, Australien … Perth oder die Golden Coastim Westen … Wenn es so kalt und neblig war wie hier in den letzten Tagen, dann wurde dieser Traum lebensgroß. Manchmal, so wie jetzt, sogar überlebensgroß. Dann meinte sie, die Sonnenstrahlen förmlich auf der Haut zu spüren und den Duft des Eukalyptus zu riechen.
Die Küchenuhr schepperte leise in der Schublade, um die anderen nicht zu wecken. Behutsam öffnete sie die Ofentür einen Spalt, um dem Teig nicht durch einen plötzlichen Temperatursturz zu schaden, nahm ihn dann heraus, um zuerst die Zitronencreme einzufüllen und darauf Löffel für Löffel das himmlische Weiß zu schichten. Zum Abschluss tupfte sie mit dem Löffel in den Eizuckerschaum, um kleine Wölkchen zu formen, und schob ihr Werk anschließend zurück in den Ofen.
Dann eilte sie die wenigen Schritte in ihr Zimmer, wo Selma noch tief und fest in dem Bett an der Innenwand schlief. Zwischen den zwei je neunzig Zentimeter breiten Betten war gerade genügend Platz für zwei wackelige Nachtkästchen. Auf ihrem lag ein Liebesroman aus der Bücherei und ihr Meerjungfrauenwecker. Am Fußende des Bettes befand sich ein kleiner Schrank, der noch aus den Gründungsjahren von Ikea stammen musste und zu klein für die Sommer- und Winterkleidung der beiden Zimmergenossinnen war. Deswegen ging Ciara beinahe in den Spagat, um über Selmas immer offen am Boden liegenden Koffer zu steigen. Bemerkenswerterweise herrschte in dem Koffer eine peinliche Ordnung, was Ciara beruhigte. Selma war schon da gewesen, als Ciara vor gut drei Monaten, also im Juli, einzog. Damals hatte Ciara sich über die Freundlichkeit der jungen Frau aus – dem Dialekt nach – Sligo gefreut. Sie hatte ihr nämlich scheinbar selbstlos das Bett am Fenster überlassen. Und ja! Im Sommer war der Luftzug angenehm erfrischend. Das Dumme war nur, dass irische Sommer kurz, die Winter dafür lang und die einst so herrlich erfrischenden Luftzüge dann eisig kalt sind. Und dabei war gerade mal Anfang Oktober! Oder schon! Schon mehr als zwei Monate teilte sie mit Selma, von der sie weder den Nachnamen wusste, noch, womit sie ihren kümmerlichen Lebensunterhalt verdiente, das Zimmer.
Ciara nahm das vorletzte frische T-Shirt, ihre Kapuzenjacke, ihre schwarze Hose und frische Wäsche aus dem Schrank. Es war ein Segen, dass das Sweetest Sins Arbeitskleidung stellte, denn so sparte sie sich den Kampf um eine Lücke im Waschplan der zwei ständig kaputten Waschmaschinen im Keller des Hauses, und außerdem musste sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob sie für die exklusive Konditorei mit Café am schicken Bachelor’s Walk passend gekleidet war.
Im Bad fröstelte sie – und dabei waren es noch sechs Wochen bis Mitte November! Denn dann erst, so hatten sie einstimmig beschlossen, würden sie die Heizung anstellen.
Zweifelsohne sah das Leben, das sie sich bei ihrem überhasteten Abschied von Cork ausgemalt hatte, anders aus. Doch ein Zurück gab es nicht, und Ciara war eine Kämpferin.
Nach der Dusche betrachtete sie sich im Spiegel und war froh, dass ihr Haar von Natur aus fein und blond war, denn so ersparte sie sich Zeit und Geld für die Pflege. Auch ihre Haut war rein und glatt und glänzte wie Seide, sodass Puder und Wimperntusche alles war, was sie verwendete. Manchmal träumte sie davon, sich mit teuren Produkten zu schminken, die Nägel zu lackieren oder noch besser: lackieren zu lassen, so wie es die Frauen taten, die in ihrer eleganten Bürokleidung oder mit ihren Designerkinderwagen ins Sweetest Sins kamen. Später, eines Tages, vielleicht, wenn sie selbst Kinder hatte … Aber vorerst gab es weitaus Wichtigeres.
Der Küchenwecker stand laut tickend zwischen diversen Zahnpastatuben, der Zeiger zeigte noch eine letzte Minute Backzeit an, und als Ciara die Badezimmertür öffnete, verströmte ihr Backwerk einen unwiderstehlichen Duft. Schnell drehte sie den Wecker aus, um die anderen nicht zu wecken, schloss die Augen und sog den wohligen Geruch, bei dem man meinte, hineinbeißen zu können, tief ein. Dann ging sie zum Ofen, lugte durch das Fenster, stellte den Herd ab, öffnete die Tür, trug die Zeit in den Block ein, schaltete den Wasserkessel an, häufte einen Teelöffel Instantkaffee in ihre Tasse und holte dann erst den Kuchen heraus.

„Perfekt“, entfuhr es ihr leise, als sie ihn ansah und sanft mit dem Finger darauf drückte. Ihre Hände zitterten leicht, als sie ein Stück abschnitt und auf einen Teller legte. Er war so frisch, dass er noch dampfte. Ihr lief bereits das Wasser im Mund zusammen, als sie das schwarze Pulver aufgoss und sich zufrieden an den kleinen Tisch setzte. Es war jetzt vollkommen ruhig in der Wohnung, nur Selmas Schnarchen und das letzte Vorwärtsschleppen der Zeiger der Küchenuhr waren gelegentlich zu hören. Sie sprach ein kurzes, stummes Gebet und nahm mit vor Genuss geschlossenen Augen den ersten Bissen des frischen Kuchens.
***
Das Sweetest Sins befand sich, wie gesagt, am modernen Bachelor’s Walk, der am Nordufer des Liffeys entlangführte. Dieses Viertel schien Lichtjahre von der WG in Crumlin entfernt zu sein, und beinahe ebenso lange schien an manchen Tagen die Fahrt dorthin zu dauern. Das war zum Beispiel bei schrecklich schlechtem Wetter oder bei großer Hitze der Fall, wenn die Waggons der Luas, der Dubliner Straßenbahn, heillos überfüllt waren und man sich wie eine Ölsardine zwischen entsprechend riechenden Menschen drängen musste.
Zum Glück war das heute nicht der Fall und Ciara ergatterte für die zwanzig minütige Fahrt nach Jervis einen Sitzplatz. Liebend gern hätte sie näher an der Arbeitsstelle gewohnt und sich so die zweihundert Euro für ihre Monatskarte gespart, aber die Mieten im Zentrum waren so astronomisch, dass die Fahrtkosten im Vergleich dazu ein Klacks waren.
Bis vor wenige Wochen hatte sie bei einem deutschen Discounter in Crumlin gearbeitet, nur einen kurzen Fußweg von der WG entfernt. An einem freien Tag war sie den weiten Weg zu Fuß ins Zentrum gegangen, um sich das Dublin anzuschauen, von dem alle schwärmten und von dem sie noch immer träumte. Dabei war sie zunächst zwar nicht in, aber doch zumindest bis vordas Sweetest Sins gekommen und hatte im Fenster die Stellenanzeige entdeckt. Daraufhin war sie sofort eingetreten und hatte sich beworben. Mit Erfolg, wie man sah. Damals wie heute kam es ihr wie ein Traum vor, dort zu arbeiten. Das Café war zwei Jahre alt, die Möbel waren aus hellem Holz, auf den Tischen standen Vasen mit frischen Blumen, an den Wänden hingen gerahmte, matte Fotos, die Speise- und Getränkekarten waren kleine Schiefertafeln und überhaupt war alles mit Liebe und in Handarbeit gefertigt. Allein diese Auszeit von der grau-schwarzen Hoffnungslosigkeit war ihr die Fahrtkosten zehnmal wert. Das Café war so schön, dass es ihr jedes Mal wie eine Belohnung vorkam, hier und nicht in der WG zu sein. 
Die Zwillingsschwestern Natalie und Melanie, denen der Laden gehörte, hatten zunächst gekichert und schließlich breit grinsend genickt und ihr die Stelle sofort angeboten. Das Kichern hatte ihrem Dialekt gegolten, das wusste Ciara. Leider schien er zu ihr zu gehören wie ein Muttermal, denn egal, was sie unternahm, er ging einfach nicht weg. Ciara errötete leicht, als sie daran dachte, wie sie mitten in dem gut besuchten Café an jenem Sonntag „Yippie“ gerufen und in die Luft gesprungen war. Am nächsten Tag war sie nicht mehr in den Discounter, sondern hierher gegangen. 
Das Sweetest Sins hatte eine große Stammkundschaft. Die erfolgreichen Geschäftsleute, wohlhabenden Mütter und reichen Studenten kamen und kauften dort ihre frischen Mandel-Croissants, Apfeltaschen, Genovesi, Kuchen und Torten nach ausländischen Rezepten, genehmigten sich dazu Cappuccino mit Sahne, einen starken, pechschwarzen Espresso oder erstanden – und das waren besonders die Mütter, die einfach immer alles auf die Reihe kriegen oder reich geheiratet hatten – dort ihr gesundes Brot und einen frisch gepressten Obst- und Gemüsesaft. Am Abend war nie etwas übrig, dafür aber war die Kasse immer randvoll. Das Geschäft lief einfach blendend, die Zwillinge und ihre Kollegen waren schrecklich nett und Ciara liebte den Ort und die Arbeit so sehr, dass sie am liebsten dort eingezogen wäre und nie mehr einen Fuß in die Mehrzweckküche und ihr halbes Zimmer gesetzt hätte.
Ciara lehnte den Kopf an die beschlagene Fensterscheibe, hinter der die Stadt vorbeizog. Mit dem Zeigefinger malte sie ein Herz und schrieb C.T., für Ciara O’Toole, hinein. Was ihre Mutter wohl gerade machte? Wider besseren Wissens holte sie ihr Handy hervor und wählte die Nummer. Die Männer waren um diese Zeit längst weg, ihre Mutter war allein. Es läutete. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Dann sagte jemand „Hello?“ und legte auf, als Ciara mit erstickter Stimme „Mom!“ hervorbrachte. Diesmal versuchte Ciara nicht, die Tränen aufzuhalten. Sie waren erst in Rialto und hatten folglich noch Zeit. Bis sie Jervis erreichten, waren die Tränen getrocknet, aber stattdessen loderte jetzt Wut in ihrem Bauch.
Zornig sprang sie aus der Tram und ging schnellen Schrittes zur Bäckerei. Sie hielt den Blick auf den Boden geheftet und steckte die Fäuste in die Jackentasche. Das, was zu Hause geschah, war gemein! Sie zog die Schultern bis zu den Ohren hoch, als könnte sie sich so vor der Außenwelt abschirmen und sich schützen. Bei allem, was mit der großen Stadt, der WG und ihrer finanziellen Notlage nicht stimmte: Wenigstens musste sie nicht mehr dumm rumstehen und warten, bis ihr Vater mit dem Essen fertig war! Und wenn sie glaubte, dass ihre Mutter jemals wieder mit ihr sprechen würde, dann war sie einfach dumm!
Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie die Tür schwungvoll aufdrückte und in den warmen, nach frischem Gebäck duftenden Laden stolperte.
„Guten Morgen, meine Liebe!“, grüßte Melanie fröhlich, sah von einem Haufen Kekse auf, die sie gerade auf einem Tablett anordnete, und lächelte sie freundlich an. „Du bist heute aber früh dran!“ Ihre langen, braunen Haare schimmerten leicht rötlich und in ihren braunen Augen lag ein warmer Glanz.
„Hallo Melanie, guten Morgen, ah, ja, ich habe eine frühere Luas erwischt“, antwortete Ciara und zog sich schnell die Jacke aus.
Da tauchte Natalie mit einem Blech voll verführerisch duftenden Mandelcroissants aus der Backstube auf.
„Warte, ich helfe dir!“, rief CIara, lief in die kleine Garderobe, die hinter der Küche und Backstube lag, und hängte ihre Sachen in ihren Spind. Schnell wusch sie sich die Hände und begann, die Croissants hübsch in der Glasvitrine aufzutürmen.
Eine Weile beobachten die Zwillinge sie schweigend, und Ciara wunderte sich bereits, ob etwas mit ihr nicht stimmte, als Melanie sich räusperte.
„Also, Ciara … Der Pecannuss-Zopf von gestern …“, setzte sie an und schaute Ciara neugierig an. Der blieb fast das Herz stehen, denn am Vortag hatten die Schwestern sie gebeten, etwas Schnelles für die ersten Kunden des Tages zu backen. Sie hatte einen Nusszopf gewählt, den sie aus dem Effeff beherrschte und den man fast nicht versemmeln konnte. War er bitter gewesen? Oder hart? Oder waren ihre drei Prisen Salz auf die Menge zu viel gewesen? Ihr schwante Übles. Zurück in den Discounter?
Doch da kicherte Natalie und stieß Melanie mit dem Ellbogen in die Seite. „Der war soooo gut. Ein Gedicht! Einfach himmlisch!“
„Ja, ein Gedicht, das war er!“, stimmte Melanie ins Schwärmen ein.
„Der Zopf ging weg wie die sprichwörtlich warmen Semmeln!”
„Oh”, seufzte Ciara erleichtert, ließ ihre angespannten Arme locker fallen und spürte, dass ihre Wangen rot anliefen. „Wirklich? Da bin ich aber froh!“
„Ja, ganz wirklich! Du bist wirklich eine hervorragende Bäckerin!“, lobten beide sie. „Und genau deswegen wollten wir dich fragen …“, alle drei hielten die Luft an, bevor Melanie weitersprach, „ob du nicht Lust hättest, den Laden morgens zu eröffnen.“
Ciara riss die Augen auf, schlug sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei.
Natalie lächelte und redete weiter: „Das würde bedeuten, dass du allein für das erste Gebäck zuständig bist.“
„I… ich?“, fiepste Ciara atemlos.
„Ja, du!”, lachten beide. „Was ist, hast du Lust? Natürlich würdest du entsprechend mehr verdienen und könntest am Abend früher nach Hause gehen.“
„Echt? Kein Spaß? Ist das euer Ernst? Ich allein?”, stammelte Ciara und schaute von einer zur anderen. „Das traut ihr mir zu?“
„Ja, natürlich! Es ist unser absoluter Ernst. Wir wären ehrlich gesagt froh, mal wieder später anfangen zu können. Es ist schon lange her, dass wir jemanden hatten, auf den wir uns verlassen können.“
Ciaras Körper wurde heiß und ihre Beine zitterten. Das war einfach unglaublich! Sie war soeben befördert worden und würde nie mehr ihre Stromverbrauchszeiten in den blöden Spiralblock schreiben müssen!


„Rick! Warum jetzt?”, seufzte James Mahoney abgrundtief und schlug verzweifelt die Hände vor sein ebenmäßiges Gesicht, das Frauenherzen weltweit zum Schmelzen brachte. Noch immer hielt er es hinter den Händen verborgen, während er den Kopf lange schüttelte.
„Warum nicht jetzt?“, gab Rick angriffslustig zurück.
Vater und Sohn saßen sich in den schweren Clubsesseln in James‘ Herrenzimmer gegenüber und sahen sich an, als sähen sie einander zum ersten Mal.
„Weil ich gerade letzte Woche mein Projekt für die Obdachlosen Dublins mit allen beteiligten Künstlern vorgestellt habe! Sag mal, hast du das denn nicht mitbekommen? Es war in allen Zeitungen und … Ach, egal.“
Natürlich hatte Rick nichts davon mitbekommen, schließlich setzte er seit Jahren alles dran, nichts davon mitzubekommen, was sein ach-so-erfolgreicher Vater so alles tat. Er lebte weitaus zufriedener, wenn er nicht tagtäglich mit den neuesten Hits, Errungenschaften, Events und sozialen Projekten, bei denen sein Vater die Finger mit im Spiel hatte, konfrontiert wurde. Doch so weit, um ihm das zu gestehen, war Rick nicht. Nun aber brauchte er ein paar Momente, bis er sich wieder fing. „Du engagierst dich für Obdachlose? Seit wann das denn?“, fragte er zweifelnd.
„Rick!“ Mit großen Augen starrte James ihn an. „Schon seit einer Ewigkeit! Das weißt du doch!“
„Ja … stimmt“, murmelte Rick, noch bevor dieses und jenes Detail, das er erfolgreich verdrängt hatte, zurück in sein Bewusstsein kletterte. So erfolgreich sein Vater im Leben und Geschäftemachen war, so erfolgreich war Rick im Verdrängen. Manchmal fiel der Apfel eben sehr weit vom Stamm, dachte er oft, oder der Baum stand an einem reißenden Fluss und das Fallobst wurde davon geschwemmt und zu Treibobst. Aber heute war er nicht hier, um Trübsal zu blasen, sondern um zu kämpfen.
„Aber was heißt das jetzt für mich und mein Projekt? Ich meine, du hast es dir doch noch gar nicht angeschaut!“ Verloren starrte er auf das Tablet, auf dem er mehr als dreißig Stunden selbst gesammeltes Dokumentationsmaterial und Interviews gespeichert hatte.
„Das heißt, Rick, leider, dass du zu spät dran bist und dass ich dir dabei nicht medienwirksam helfen kann. Wenn du jetzt nachziehst, sieht es aus, als würdest du auf den fahrenden Zug aufspringen und als würde ich dir einen Gefallen tun. Das schadet uns beiden weit mehr, als uns es bringt.“
Rick schnaubte abfällig und ließ nun doch den Kopf hängen. Sein Vater brauchte nicht weiterzusprechen. Endlich war Ruhe eingekehrt, aber als Rick nach dem Master noch immer nicht zu arbeiten begonnen, sondern weitere Kurse belegt hatte, hatte die Presse bösartig zu spekulieren begonnen und ihn als „Sohn“, „Taugenichts“, „Erbe“ etc. durch den Dreck gezogen. Und jetzt war er zu spät dran! Was hatte er eigentlich erwartet? Es ging immer irgendetwas schief in seinem Leben. Immer. Ohne Ausnahme. Alles, was er hatte, war das Geld seines Vaters – und ein Haus voller Freunde. Das Haus, das sein Vater ihm überlassen hatte, als er gesehen hatte, wie gut ihm die fünf taten und wie sehr sein Herz an der Clique hing.
Auch sein Vater atmete laut aus, schüttelte noch einmal den Kopf, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und schaute nachdenklich an die Stuckdecke. Dann ließ er die Hände auf die Tischplatte sinken und schaute seinen Sohn ernst und nachdenklich an. „Rick, ich finde es wirklich super, und es freut mich total, dass du dich für ernste Themen interessierst und dich engagieren willst. Aber dich jetzt in den Medien zu unterstützen, das wäre absolut lächerlich und hochgradig kontraproduktiv. Ich unterstütze dich gern im Stillen. Und bei jedem neuen Projekt, für das du dich stark machst. Sag mir nur bitte, bitte!, nächstes Mal rechtzeitig Bescheid. Und jetzt überlegen wir, was wir sonst tun können …“
Das Gespräch ging Rick im Kopf herum, als er mit seinem BMW Coupé von dem schönen Küstenort Killarney ins Zentrum der Stadt zurückfuhr. Sie hatten nichts gefunden, was er jetzt tun könnte, natürlich nicht, und Rick erkannte selbst, dass es daran lag, weil er sich wieder verschlossen hatte. Er war einfach ein Versager, aus dem nie etwas wurde. Er suchte und suchte und fand nur verschlossene Türen. Er brauchte kein Mitleid, er brauchte eine Aufgabe. Eine, die sinnvoll war und bei der er anderen half. Wie dieses Filmprojekt! Aber das wollte nun wieder niemand!
„Es reicht!“, schrie er und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Still dachte er, dass er lange genug der Sohn gewesen war und sich das Leben von Papa hatte finanzieren lassen. Seine ältere Schwester Elaine arbeitete in New York bei einer Frauenzeitschrift mit einem politisch-sozialen Schwerpunkt – neben Mode, Kosmetik und den neuesten Wohn– und Lebenstipps. Sein Mutter vertrieb sich, soweit er das beurteilen konnte, die meiste Zeit in Spas, beim Golfen, Tennis und Yoga, während der Vater die meiste Zeit geschäftlich unterwegs war. Nichtsdestotrotz waren seine Eltern ein glückliches Paar. Sie liebten sich wirklich und ihre Ehe war nicht nur in der Presse, sondern in echt harmonisch, das musste er zugeben, auch wenn er dieses Idyll wann und wo immer er konnte mied. Als schwarzes Schaf passte er einfach nicht dazu.
Sein Vater hatte sich erkundigt, was Ricks Interesse an der Wohnungskrise und den vielen Obdachlosen ausgelöst hatte. So hatte er ihm von Brandon erzählt.
Letzten Winter, als die Wohnungsnot einen neuen, erschütternden Höhepunkt erreicht hatte, war er eines Nachmittags aus einem trendigen Coffee Shop in der Innenstadt gekommen und beinahe über einen Mann gestolpert, der in etwa so alt wie er selbst war. Dabei hatte er die angebissene Zimtrolle, die satte drei Euro fünfzig gekostet hatte – das wusste er noch genau -, in den Schoß des Obdachlosen fallen gelassen. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander hängen. Der Mann mit den himmelblauen Augen sah ihn mit einer Mischung aus Scham, Hunger und Ergebenheit an. Sein Gesicht und seine Kleidung waren beinahe sauber, aber sein Bart war seit Tagen nicht rasiert und sein Haar ebenso lange nicht gewaschen worden. Er saß auf einem Lager aus alten Decken, Kissen und seinem Schlafsack und hatte seinen kleinen Bereich mit seiner abgewetzten Tasche, Pappkartons, Obstkisten und einer Grabkerze abgegrenzt. Neben ihm lag ein abgegriffener Roman, an dessen Titel Rick sich nicht erinnern konnte.
„Ent… schuldigung“, stammelte Rick und ging in die Hocke, um nicht über dem Mann zu thronen. „Ich – ähm – mögen Sie Zimtrollen? Hätten Sie gern eine ganze?“ Er geriet ins Schwitzen, so sehr schämte er sich plötzlich für seine achtlose Geldverschwendung und all den Luxus, den er so oft gar nicht schätzte.
„Sie meinen – eine Zimtrolle von da“, der Mann zeigte auf das Café, „von da drin?“
„Ja, genau“, nickte Rick. „Mit Kaffee. Oder Saft. Oder etwas anderes. Was Sie halt gerne mögen.“
„Wirklich?“ Der Mann begann zu strahlen. „Also, wenn Sie das wirklich ernst meinen, dann hätte ich am liebsten eine Zimtrolle und einen Cappuccino mit Milchschaum und Kakao oben drauf.“ Seine Stimme klang verträumt und seine Augen leuchteten wie die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum.
„Gern. Oder wissen Sie was – kommen Sie doch einfach mit rein, dann können Sie sich aussuchen, was Sie wollen“, schlug Rick vor und erhob sich. Noch während er sprach, spürte er, dass er etwas Falsches gesagt hatte und ahnte schon, was es war, bevor der Fremde es mit plötzlich niedergeschlagenem Gesichtsausdruck flüsterte: „Nein. Nein. Lassen Sie nur. Die wollen so einen wie mich da drin nicht haben.“
„Ach, wieso denn nicht!“, versuchte Rick, ihn umzustimmen und vor allem sich selbst zu beruhigen.
„Nein. Bitte nicht“, wehrte der Mann entschieden ab und schaute auf den Asphalt, der so nah vor seinen Augen war.
„Okay“, antwortete Rick leise und ebenso bedrückt. „Ich bin gleich wieder da.“ Und das war er. Mit den letzten drei Zimtrollen, die der Laden an dem Tag hatte, und einem großen Cappuccino mit cremigem Milchschaum und viel Kakao.
Dem Mann stiegen die Tränen in die Augen, als er die Geschenke an sich nahm und dabei immer wieder „Danke, danke, danke“ flüsterte, während er jeden einzelnen Bissen und Schluck genoss.
Rick brannte darauf, zu erfahren, warum und wie er auf der Straße gelandet war, fragte aber nicht, da er nicht indiskret erscheinen wollte. Stattdessen sagte er nur: „Übrigens: Ich bin Rick. Und wie heißt du?“
Nachdem Brandon sich vorgestellt hatte, fiel Rick nichts mehr ein, was nichts mit Brandons Situation und der wirtschaftlich-sozialen Situation im Allgemeinen zu tun hatte. Er verabschiedete sich mit dem unausgesprochenen Vorsatz, am nächsten Tag wiederzukommen. Als er jedoch am nächsten Tag wiederkam, war von Brandon und seinem Lager weit und breit nichts zu sehen.
Brandon … wie es ihm wohl ergangen war? Ob er noch lebte? Ob er wieder ein Dach über dem Kopf hatte? Brandon und so viele andere. Die Stadt war voll mit Menschen, die ihr Zuhause verloren hatten und seitdem auf dem kalten Boden schliefen.
Die Geschichte von Brandon war mit den Zimtrollen nicht zu Ende, und die von Rick und den Obdachlosen hatte gerade erst begonnen.
Am nächsten Tag war er mit seiner Kamera losgezogen, in der Hoffnung, Brandon am selben Ort wiederzufinden, doch, wie bereits erwähnt, war dem nicht so. Stundenlang hatte er die Innenstadt abgesucht, bis er ihn vor einem Fastfood-Laden in der Suffolk Street fand. Rick besorgte warmes Essen und Getränke für sie beide und setzte sich zu ihm. Brandon war damit einverstanden, dass Rick ihm Fragen stellte und das Aufnahmegerät mitlaufen ließ. Dabei erfuhr Rick, dass Brandon eine Lehre als Mechaniker begonnen, aber nicht beendet hatte, weil die Miete so dramatisch erhöht worden war, dass er und seine Mitbewohner sie nicht mehr hatten bezahlen können und auf der Straße gelandet waren. Obwohl sich die Wirtschaft seit Kurzem langsam erholte, war Brandon noch nicht wieder auf die Füße gekommen. „In die alte Arbeitsstelle kann ich nach einem Jahr Unterbrechung nicht mehr zurück. Ohne Wohnung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung.“ Brandon hob die Hände, drehte die Innenflächen nach oben und ließ sie kraftlos wieder fallen. Auch Rick wusste nichts, was er, als der reiche Sohn, der er nun mal war, darauf hätte sagen sollen.
Er gab Brandon sein gesamtes Bargeld, knipste ein paar Fotos von ihm und hoffte, ihn wiederzusehen. Doch nur zweimal hatten sich ihre Wege seither gekreuzt. Das war ungewöhnlich, wie er herausgefunden hatte, denn viele Obdachlose blieben lange Zeit am gleichen Fleck.
***
Das Gespräch mit seinem Vater war drei Tage her. Seitdem hatte Rick seine gemütliche Penthouse-Wohnung in ein Studio verwandelt und es nicht mehr verlassen. Es war einzig Susans und Alexandras Fürsorge zu verdanken, dass er nicht halb verhungerte, denn sie versorgten ihn mit selbst gekochtem Bami Goreng und Spaghetti Bolognese, Obst, Brot und anderen Dingen, die sie für gute, kreative Arbeit unverzichtbar hielten. Harvey-Harper, der im Lauf der Zeit zu seinem besten Freund geworden war, weilte auf Tournee in seinem Heimatland, was Alexandras üblicherweise so freudig strahlendes Gesicht ein wenig trübte und sie stundenlang an ihren Laptop fesselte, um mit ihrem Schatz zu skypen. Dafür verbrachte Calum immer mehr Zeit in Susans Apartment und in dem Kraftraum, den sie in Darraghs verwaister Wohnung eingerichtet hatten, als in seinem Einzimmerapartment, das er nach der Trennung von seiner Freundin in Blanchardstown bezogen hatte.
Und die Zwillinge? Die erholten sich noch von der Wiener Affäre, wie das Abenteuer mit den beiden Österreichern hausintern augenzwinkernd bezeichnet wurde. Die Männer waren ein oder zwei Mal hier und die Zwillinge zwei Mal dort gewesen und hatten neben schönen Erinnerungen einen bleibenden Schatz an neuen Rezepten eingeheimst, was die irische Kundschaft immer wieder aufs Neue in Entzücken versetzte. Da jedoch weder die Männer noch die Frauen zu einem Umzug in ein anderes Land bereit waren, hatten sie den Spaß vor zwei Wochen beendet. Seitdem trieben die Frauen sich vermehrt allein durch das Dubliner Nachtleben.
„Brauchst du noch etwas?“, erkundigte Susan sich gerade und schaute über seine Schulter auf den Bildschirm.
Rick sah auf und strich sich mit der flachen Hand über das Gesicht. „Nein, ich glaube nicht. Nur eine Pause und frische Luft.”
„Hey, das klingt aber mal vernünftig!”, antwortete sie lachend und ging mit ihm auf die großzügige Dachterrasse, von der aus man an klaren Tagen sogar das Meer sehen konnte. Davon war in der Dunkelheit natürlich nichts zu sehen, nur die Lichter der Stadt funkelten unter und vor ihnen.
„Du, Susan, sag mal: Wie ernst ist es denn mit dir und Calum?“, wollte Rick wissen und atmete tief die frische Herbstluft ein. Sie war so feucht, dass seine Haut entspannte.
„Oh“, kicherte sie leicht verlegen. „Also, mir ist es sehr ernst. Aber warum fragst du?“
„Und ihm?”
„Ich kann natürlich nicht für ihn antworten, aber ich glaube, es geht ihm genauso.“
„Mhm“, machte Rick nachdenklich und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Dort unten, auf der Straße, schliefen Menschen in ihre Jacken, Schals und Schlafsäcke gemummelt und froren hoffentlich nicht zu sehr.
„Weißt du, Susan, eine Wohnung ist eine Wohnung.“
„Ja …“, antwortete Susan gedehnt und schaute ihn fragend an.
„Also, was ich sagen will, ist, dass er gern bei dir einziehen kann, wenn er will. Ich habe nichts dagegen.“ Er bemerkte, dass Susans Mundwinkel zuckten und sich ihre Augen weiteten, sprach aber unbeirrt weiter. „Er würde sich nicht nur viel Geld für das Garconniere sparen, sondern auch Zeit und Geld für die Fahrt zur Arbeit. Abgesehen davon könnte jemand, der die Wohnung dringender braucht als er, dort einziehen.“
Susan schluckte und rang nach Worten. „Ich … wow, das kommt ein bisschen unerwartet, und etwas früh. Aber … Prinzipiell natürlich gern.“
„Ich will euch nicht drängen.” Rick hob abwehrend die Hände. „Es war nur ein Vorschlag.“
„Danke. Ich weiß, dass du uns nicht drängen willst. Es ist nur total lieb von dir und es zeigt, wie viele Gedanken du dir machst.“
Rick zuckte die Schultern, legte dann einen Arm um seine gute Freundin und zog sie an sich. „Ach, Susan. Ich bin froh, dass es euch gibt.“
„Danke, das bin ich auch“, antwortete sie sichtlich gerührt.
Dann verkroch er sich für weitere drei Tage in seiner Wohnung, solange, bis er mit dem Dokumentarfilm zufrieden war.
Es war ein Donnerstagabend. Calum war geschäftlich in Sligo, Harvey-Harper inzwischen in Linz, als Rick eine Message an die Verbliebenen der House Gruppe schickte. „Fertig! ? Essen im Shabby Shamrock um acht?“
Schneller als er schauen konnte, trudelte ein „Jaaaa!” nach dem anderen ein.
An Tagen wie diesen war es von Vorteil, James Mahoneys Sohn zu sein, denn ihm gehörte das Restaurant und so war es ein Leichtes, in dem stets ausgebuchten Lokal einen Tisch für fünf zu ergattern.
Rick saß bereits an dem runden Ecktisch und hatte schon eine Platte mit kalten Vorspeisen für alle bestellt, als Alexandra und direkt nach ihr die Zwillinge eintrafen. Nur Susan entschuldigte sich schriftlich und teilte mit, dass sie etwa eine Viertelstunde später eintreffen würde. Die Freunde bestellten zur Feier des Tages ihre Lieblingscocktails und orderten schon einen Singapore Sling für Susan mit. Die Cocktails waren gerade serviert worden, als eine Frau, deren Kleidung an die Susans erinnerte, sich ihrem Tisch näherte. Doch auch wenn sie sich wie Susan bewegte und eindeutig ihr Kleid, ihre Jacke, ihre Tasche trug, so war es doch nicht Susan. Dann Susan hatte langes, blondes Haar und diese Frau einen hellbraunen Pagenkopf. Neugierig verfolgten sie mit, wie die Frau zu ihnen an den Tisch kam, mit einem kurzen und farblos lackierten Zeigefinger auf das Glas zeigte und fragte: „Hey, ist der etwa für mich?“
„S… Susan?“, stammelte die sitzende Gruppe, deren Kinnladen allesamt fast auf den Tisch fielen. „Bist du das?“
„Ja! Erkennt ihr mich etwa nicht?“, kicherte sie da und drehte sich schelmisch von links nach rechts, damit alle sie von allen Seiten bewundern konnten.
„Susan! Wahnsinn! Was hast du denn gemacht?”, riefen alle durcheinander und sprangen auf. Natalie musste Susans kurzes Haar sogar anfassen, um zu glauben, was sie sah.
„Aber – warum denn?“
„Susan, deine Haare!“, rief Rick verzweifelt und zog eine schmerzverzerrte Grimasse. „Dein Gold! Oh, Susan!“
„Och, Rick, nicht weinen!”, scherzte sie und tätschelte ihm aufmunternd die Schulter.
Der wollte sich jedoch nicht beruhigen lassen und heulte theatralisch und wrang die Hände in der Luft: „Was wird Calum dazu nur sagen? Der arme Calum! Jetzt zieht er nie bei uns ein!“
„Ha! Das möchte ich auch gern wissen! Aber wisst ihr was?”, fragte sie und schaute in gespannte Gesichter. „Er hat oft gesagt, dass er natürliche Frauen gut findet und dass mir meine Naturfarbe bestimmt auch gut steht. Und na ja – das ist so in etwa mein Naturton, so genau weiß ich das schon gar nicht mehr. Mmpf! Ist es zu glauben?“, lachte sie ausgelassen. „Ich weiß gar nicht mehr, wie meine eigene Haarfarbe aussieht!“
„Wow, Susan!“, staunte Alexandra und nahm ihre Freundin wortlos in die Arme. Dann flüsterte sie ihr ins Ohr: „Du siehst wunderschön aus. Es steht dir total gut und passt genau zu deinem neuen Selbstbewusstsein. Echt, Susan: Ich freue mich für dich.”
Fröhlich tranken sie auf Susans Frisur und die Fertigstellung des Films. Es wurde ein lustiger und langer Abend, an dessen Ende die Zwillinge beschlossen, endlich von Ciaras Frühschicht Gebrauch und mit Rick Temple Bar unsicher zu machen. So verabschiedeten sich Susan und Alex gegen 23 Uhr in Richtung Wohnung, während die anderen sich ins Dubliner Nachtleben stürzten.
***
Im Blue Train to Texas, einem angesagten Club, tranken und tanzten die drei zunächst ausgelassen weiter.
Erschöpft legte Natalie in einer Pause einen Arm um Rick und ihren schweren Kopf an seine Schulter. „Sag mal, Rick, bist du wegen Anastasia eigentlich noch traurig?“, nuschelte sie an sein Ohr, und ihr heißer Atem kitzelte seine Haut.
„Anastasia? Wer? Ach so, die! Nein, schon lange nicht mehr“, wiegelte er ab, denn er wollte nicht an das blonde ukrainische Model denken, dem er die halbe Welt zu Füßen gelegt hatte. Trotzdem stach die Erinnerung an ihre letzten Worte wie ein Messer in seine Brust. „Du bist ein Weichei, ein Versager, der es im Leben nie zu etwas bringen wird. Du lebst nur von deinem Vater. Und nicht mal mit dem verstehst du dich gut genug, als dass es mir etwas geholfen hätte!“
„Wirklich?“, bohrte Natalie sanft nach und strich mit der Fingerspitze sanft über seinen Hals.
„Hey, Nat, lass das!“ Er lachte, ergriff ihre Hand und schob sie von sich weg.
„Sorry, Rick, ich wollte nur …“
„Schon gut.“
„Schwesterherz! Zeit zum Heimgehen, wenn du dich schon an deinen besten Freund ranmachst!“, schaltete Melanie sich ein und hakte sich bei Natalie unter. „Und du, Rick, kommst am besten gleich mit. Es ist schon fast ein Uhr, wir müssen morgen früh raus!“
„Erst? Der Abend hat doch …“ Rick sprach nicht weiter, sondern drehte sich zu dem Mann, dem die Hand gehörte, die soeben schwer auf seiner Schulter gelandet war. „D… Danny?“, stammelte er. Neben ihm stand ein breitschultriger Kerl mit Totenkopf- und Tribal-Tattoos auf den starken, enthaarten Armen. Er trug ein eng anliegendes T-Shirt, unter dem sich seine Muskeln spannten. In sein pechschwarz (gefärbtes) Haar war ein angesagtes Muster rasiert.
„Yo, man! Rick! Effin‘ cool, ey! Long time no see! Yo, man!”, grölte er und schlug ihm mit der Hand so fest auf den Rücken, dass Rick unweigerlich einen Schritt nach vorne machte.
„Ja … wirklich lang her!“, versuchte Rick, auszuweichen und sich aus dem Griff zu winden.
„Hätte ich nicht gedacht, dich hier zu treffen. Cool, was! Komm, Kumpel, was trinkst du?“
„Heute nichts mehr, danke! Wir wollten gerade gehen“, antwortete Rick freundlich.
„Genau!“, fuhr Natalie schneidend dazwischen und zerrte an Ricks Ärmel. „Komm jetzt! Wir gehen.“
„Oh, so eine strenge Mammy aber auch, was?“, dröhnte Dannys Lachen zu ihm. „Kumpel, ich versteh schon. So eine heiße Braut würde ich mir auch nicht entgehen lassen. Also, schau, dass du in die Kiste kommst, hehe. Ich meld mich! Cheers, Man!“ Er hob die Hand, streckte zwei Finger in die Luft und schaute ihnen nach, wie sie den Club verließen.
„Wer war das denn?“, zischte Melanie, als sie vor dem Club in der kühlen Nachtluft standen.
„Danny. Ein alter Schulfreund.“
„Sch… Moment. Schul-Freund?“, fragte Natalie gedehnt. „Aber doch nicht etwa der Danny?“
„Doch. Genau der“, gab Rick knapp zur Antwort und biss sich auf die Unterlippe.
„Puh, Unkraut vergeht einfach echt nicht, oder?“, stöhnte Melanie und legte den Kopf in den Nacken. „Pass bloß auf, Rick, der …“
„Ich weiß, ich weiß!“, unterbrach er sie unwirsch. Danny war nicht gut. War es nie gewesen. Von ihm hatte er zu Schulzeiten den ersten Joint, die erste Line, den ersten Trip bekommen. Seinetwegen wäre er beinahe hinter Gittern und auf Entzug gelandet. Er atmete tief durch und blieb nach einigen Metern stehen. „Ich weiß, sorry, Nat und Mel. Ich weiß. Danke, dass ihr damals für mich da wart. Ohne euch …“
„Das wissen wir!“, unterbrachen sie ihn und legten von beiden Seiten einen Arm um ihn. So gingen sie weiter, bis sie nach wenigen Minuten ihr Haus erreicht hatten.

Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen mit Ardy K. Myrne


Damit starten wir doch einfach mal mit meiner neuen Rubrik. Ich wünsche euch und uns allen dabei viel Spaß.
Der dunkle Feind“ von Ardy K. Myrne
Genre: Vampirroman, Romantasy
Kurzinhalt:

„Wie lange ein Traum verweilt, hängt immer davon ab, wie sehr man hoffen, lieben und hassen kann.“
Das Leben der siebzehnjährigen Sarah nimmt eines Tages eine plötzliche Wendung: Nicht nur ihre älteste Freundin Hettie offenbart ihr eine unglaubliche Gabe, auf einer Party fällt Sarah auch noch einem ungeladenen Gast in die Arme. Wer ist der mysteriöse junge Mann, der für so viel Ärger sorgt und ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will? Als sie von ihrem Gastgeber erfährt, dass ihre Zufallsbekanntschaft ein Vampir sein soll, glaubt sie ihm nicht und beschließt, dem Ganzen selbst auf den Grund zu gehen. Dabei betritt sie eine Welt, die ihre eigene für immer verändert.
LESEPROBE
Noch vor dem Zwielicht war ich aufgebrochen und saß nun schon fast eine Stunde auf den Stufen vor der Eingangstür. Drinnen regte sich kein Luftzug, und die Sorge zerfraß mein Herz.
Kurz nach der Dämmerung – ich hatte die Stirn auf meinen Armen platziert, die auf angezogenen Knien lagen, und starrte trübsinnig die Stufen unter mir an – stand der Mentor in der Auffahrt.
Es war, als sei er geradewegs aus dem Boden empor geschossen, ich hatte keine Schritte gehört und keinen Schatten gesehen. Erschrocken fuhr ich auf und starrte ihn an – und er starrte zurück.
„Guten Abend, junge Dame.“
Sein kalt höflicher Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass ich hier nicht willkommen war. Es schien mir, als habe er mit meinem Auftauchen überhaupt nicht gerechnet, und das verwirrte mich. Der ganze Mann verwirrte mich. Er stand nur da, die Hände in den Manteltaschen und sah auf mich herab. Ich erinnerte mich fröstelnd an unsere erste Begegnung und wünschte, Corbian wäre hier.
Ich stand auf, strich meine Kleider glatt und erwiderte seine Begrüßung, aber mehr bekam ich nicht heraus.
Ein paar Augenblicke später fragte er endlich: „Warum bist du hier?“
„Wegen Corbian“, antwortete ich. Wieso musste er das noch fragen?
Und dann sah ich einen Schatten über sein Gesicht huschen. „Willst du herein kommen?“
Ich weiß nicht, was mir mehr Gänsehaut bereitete: der Schatten oder seine nun süßliche Stimme. Ich folgte ihm trotzdem ins Haus.
Er öffnete eines der Zimmer im unteren Flur, wies mir einen Platz auf einem alten Ledersofa zu und ging, um mir ein Glas Wasser zu holen. Der Raum diente als Wohnzimmer, machte aber nicht den Eindruck, als würde er regelmäßig benutzt. Es sah eher aus wie eines dieser altmodischen Katalog-Arrangements, mit einer leichten Staubschicht auf dem Tisch und in den Regalen der Schrankwand. Als einziger Wandschmuck diente eine große Pendeluhr. Außer dem schwingenden Perpendikel war nichts zu hören, und mir war, als hätte ich den Atem angehalten, seit dem ich über die Türschwelle getreten war. Die Atmosphäre schnürte mir den Brustkorb zu, und es wurde kaum besser, als er mit dem Wasserglas zurückkam und ich einen Schluck davon trank.
„Corbian ist nicht hier“, konstatierte der Lehrer und setzte sich in einen Sessel mir gegenüber.
„Haben Sie ihn gesehen? Geht es ihm gut? Ich wusste nicht, was ich tun sollte!“
Als er sah, dass meine Augen die ersten Tränen nicht mehr verbergen konnten, brach sein Eispanzer etwas auf.
„Was ist passiert?“
Natürlich musste er davon wissen, denn er fragte mich nicht mit der besorgten Art, wie es ahnungslose Angehörige tun, eher wie ein Polizist einen Zeugen vernehmen würde. Und so reglos nahm er meinen Bericht auch auf.
Ich erzählte ihm nicht alles. Den Wortwechsel zwischen Corbian und den Schlägern ließ ich aus. Es schien mir nicht angemessen, derart ins Detail zu gehen, zumal er mir gegenüber auch nicht gerade der Herzlichste war.
„Haben Sie ihn gesehen?“, wiederholte ich meine Frage noch einmal.
Doch statt mir zu antworten, fragte er seinerseits: „Wieso bist du nicht gleich weggelaufen?“
Habe ich schon gesagt, dass dieser Mann mich verwirrte? Seine ganze Art brachte mich aus der Fassung!
„Weil ich ihn liebe!“, antwortete ich spontan und verbarg meine Empörung nicht.
Und dann wurde mir klar, was ich gesagt hatte. Dass ich es noch nie so gesagt hatte!
Der Lehrer höhnte: „Wäre es dann nicht besser gewesen, du hättest getan, was er von dir verlangt hat?“ Er lachte kurz auf und fuhr fort: „Du scheinst ein nettes Ding zu sein. Du sorgst dich, und du bist mutig. Aber hast du einmal daran gedacht, dass du dir vielleicht den Falschen ausgesucht hast? Was sehen deine Augen, wenn du in die Welt hinein schaust? Was sieht dein liebesblinder Blick?“
Etwas brannte in meiner Kehle. Eine verzweifelte Wut keimte auf, die nur von meiner nervösen Angst in Schach gehalten wurde. Es war ein Fehler, dass ich hergekommen war.
„Mir zuzuhören ist kein Fehler, junge Dame. Deine Augen zu verschließen, wäre ein Fehler.“
„Was?“, erschrocken fuhr ich auf. Hatte er etwa –?
„Was du denkst, kann ein Blinder von deinem Gesicht ablesen. Du solltest dich beruhigen. Du solltest mir zuhören.“
Ich stolperte über die Couchlehne und blieb dahinter stehen. Was für ein Schild!
„Ich wünschte, du wärest immer so achtsam wie jetzt. Deine Naivität wird dich nämlich nicht beschützen. Lass deine Augen offen, junge Dame, bevor du in dein Unglück rennst.“
„Was ist mit Corbian?“
Sein Lachen klang bitter und amüsiert zugleich. „Du wirst mir nicht zuhören, nicht wahr?“ Er musterte mich durchdringend, bis ich das Gefühl hatte, dass sein Röntgenblick meine Knochen schmelze.
„Also gut, junge Dame, dann such ihn im Südviertel.“
War das ein Scherz? Ich fragte ihn das nicht. Ich nickte nur und lief aus dem Haus.
Das Südviertel war so etwas wie der Abtritt unserer Stadt. Da ging keiner freiwillig hin, der keine üblen Geschäfte plante oder zu arm war, um von dort wegzuziehen. Es musste eine Art böser Scherz sein. Ich würde niemals freiwillig dorthin gehen!
Kurz war ich versucht, Benny doch in diese Angelegenheit einzubeziehen. Es hätte mich mutiger gemacht, aber ich fand es dann doch falsch. Wie hätte ich ihn in Gefahr bringen können, nur um mich besser zu fühlen? Corbian war meine Sache.
Trotzig beschleunigten sich meine Schritte.
Was für ein Mensch war dieser Mentor? Erst diese mysteriöse Warnung und dann eine unverhohlene Aufforderung, mein Glück geradezu herauszufordern! Und was machte ich? Ich ging auch noch schnurstracks in die Höhle des Löwen!
Aber ganz selbstmörderisch war ich nicht veranlagt. Es war noch nicht lange dunkel, und ich hatte nicht vor, mir dort die ganze Nacht um die Ohren zu schlagen. Ich wollte es langsam angehen, wenn man in dieser Situation überhaupt so etwas sagen konnte.
Mein erstes Ziel war die Suppenküche. Wenn ich ehrlich bin, war es auch mein einziges. Im Asyl wollte ich nicht suchen, Corbian hatte ein Zuhause. Allerdings war mir nach wie vor nicht klar, was er überhaupt im Südviertel zu suchen hatte.
Ich war einer Flut von Zweifeln und Ängsten ausgeliefert, und sie brach ungehemmt über mich herein. Am hartnäckigsten war die Frage: Ob ich mir den Falschen ausgesucht hatte? Was, zum Teufel, hatte der Lehrer gemeint? Etwa Drogengeschäfte? Das würde zu den Schlägern passen, aber alles andere passte eben nicht. Ganz davon abgesehen, würde ich auf keinen Fall einen Fuß in irgendeine Spelunke setzen, um subversive Elemente abzuchecken!
Die Straßen wurden düsterer, schmuddeliger. Ganze Häuserzeilen waren verlassen, die eigeschlagenen Fensterscheiben mit Pappe und Spanplatten verrammelt.
Zentimeterdicke Plakatreste wellten sich von der durchfeuchteten Oberfläche und rannen wie erstarrtes Kerzenwachs von den Wänden. Seit Monaten hatte hier keiner mehr etwas angeklebt, nicht einmal die sonst obligatorischen Antifa-Aufkleber.
Ich wollte gar nicht wissen, was sich alles hinter den alten Mauern versteckte. Fröstelnd setzte ich meinen Weg fort. Die Suppenküche war in einer ehemaligen Grundschule eingerichtet worden, mitten in einem Wohngebiet, so dass sie von Bedürftigen schnell zu erreichen war. Vor der Eingangstür brannte eine schwache Glühbirne wie das Nachtlicht in einem Kinderzimmer. Es machte den Ort und die Gegend noch etwas trauriger. Es war elf Uhr und es gab noch immer zu tun. Einige waren mit Essgeschirr und Töpfen gekommen, um sich eine Mahlzeit abzuholen. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und schlüpfte mit eingezogenem Kopf durch das offen stehende Eingangstor.
Drinnen saßen nur wenige an den Tischreihen unter der Neonbeleuchtung, die von den Tagen als Klassenzimmer noch übrig geblieben waren. Aber unter den Essenden konnte ich Corbian nirgends entdecken. Half er hinter den Kulissen aus? Aber weder das eine noch das andere ergab einen Sinn. Ich blieb noch eine Weile grübelnd neben der Tür stehen und beobachtete die ein- und ausgehenden Menschen, bis ich schließlich unerwünschte Aufmerksamkeit auf mich zog und wieder nach draußen verschwand.
Was tat ich hier eigentlich?
Auf dem Vorplatz der Suppenküche fanden sich die Leute zu kleinen Gruppen zusammen, und ich entschied, dass es langsam zu gefährlich wurde. Schnell, aber nicht zu schnell, machte ich mich auf den Heimweg.
Mein Magen schmerzte vor Ungewissheit. Ich gab mich wieder ganz den schwappenden Wellen aus Kummer und Angst hin, und dann riss mich ein Scheppern aus meinen Gedanken, das mich so erschreckte, dass ich stehen blieb und mir ans Herz fasste. Außer mir schien es niemand gehört zu haben. Der Lärm war aus einer Nebengasse gekommen, vor deren Einmündung ich nun stand und mit hämmerndem Herzen in das Halbdunkel starrte. Ich sah den noch kreiselnden Topfdeckel etwa zehn Meter entfernt zur Ruhe kommen und dahinter ein paar Beine in den Weg ragen.
War einer der Hungrigen aus der Suppenküche gestürzt?
Ich setzte zwei zaghafte Schritte in die Gasse, und noch bevor meine Augen registrierten, was sie da sahen, sträubten sich mir alle Nackenhaare.

Lebenszeichen und Neues beim/vom Sonnenblümchen


Hallöchen ihr Lieben,
ja mich gibt es auch noch und nun wird es wohl auch wieder mehr hier für euch zu finden sein. Unter anderem habe ich mir etwas Neues für euch einfallen lassen und dazu habe ich schon einiges für euch bekommen. Doch was ist das? Unter „Leseproben-Zeit beim Sonnenblümchen“ werdet ihr nun in regelmäßig unregelmäßigen Abständen immer mal wieder Leseproben hier eingestellt bekommen. Diese habe ich direkt von den jeweiligen Autoren dafür zur Verfügung gestellt bekommen. So werdet ihr vielleicht noch weiter tolle Bücher und Autoren für euch entdecken. Ich wünsche euch dabei ganz viel Spaß und vielleicht kommentiert ihr ja unter den LP mal, wie euch diese gefallen hat.
Einen kleinen Aufruf möchte ich mit diesem Beitrag auch gleich noch starten. Also, sollten vielleicht noch Autoren unter meinen Lesern sein und diese würden auch gerne mit der einen oder anderen Leseprobe dabei sein, dann meldet euch doch einfach über meinen Kontaktbutton bei mir. Ich würde mich sehr darüber freuen und meine Leser mit Sicherheit auch. Denn diese Rubrik, so wünsche ich mir, soll für uns alle eine Winwinsituation werden.  Also sowohl wir Leser finden neues Kopfkino für uns, als auch ihr Autoren bekommt neue Leser für eure Bücher. Also es wäre für uns alle nur ein Gewinn.